"Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!
Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen,
aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein grosses Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.
Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen."
„Vergangenheitsbewältigung“ ist ein oft gebrauchtes, schillerndes Wort in der Seelsorge. Soll der Seelsorger mit seinem Nächsten eine schmerzvolle Vergangenheit aufarbeiten, behandelt er ihn häufig nach tiefenpsychologischen Ansätzen als Opfer seiner Umstände. Die Hilfe soll durch Veränderung des Denkens, menschliche Anteilnahme oder das Bewusst-werden-Lassen von unterdrückten Gefühlen und Gedanken geschehen. Die Vergangenheitsbewältigung muss jedoch in einem grösseren Zusammenhang gesehen werden als nur in der persönlichen, sozialen, oft schmerzhaften Vergangenheit. Der grössere Zusammenhang besteht in der Erlösung in Christus, die in der Vergangenheit begonnen hat – nämlich in der Erwählung vor Grundlegung der Welt – und in der zukünftigen Ewigkeit nicht enden wird. Die Erlösung in Christus befreit uns vom sündhaften Täter-Sein gegen einen heiligen Gott und damit auch vom Sündigen und Schuldig-Werden gegenüber anderen Menschen. Die ER-Lösung befreit uns auch von der Opferrolle aufgrund sündhafter Vergehen anderer Menschen gegen uns. Josef sagt zu seinen Brüdern: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“
Stand das Leben von Josef nicht ganz im Zeichen einer Vergangenheitsbewältigung?
Den Ausdruck finden wir in der Bibel allerdings nicht; vielmehr stammt er aus dem 20. Jahrhundert. Der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ wurde nach dem zweiten Weltkrieg vor allem politisch verwendet. Dabei sollte die Frage geklärt werden: „Wie kann das deutsche Volk mit der Schuld, der Last und den bedrückenden Gefühlen der Vergangenheit, den Verletzungen und den Opfern des Holocausts umgehen?“ Dieser politische Ansatz der Vergangenheitsbewältigung besteht darin, das Problem durch ein kollektives politisches „Erinnern“ und die Bestrafung der Schuldigen zu lösen.
Doch auch die Psychotherapie und die Seelsorge kommen ohne dieses Wort nicht mehr aus. Die Frage „Können Sie mir helfen, meine Vergangenheit zu bewältigen?“ wird oft auch an den Seelsorger gestellt. Oder dann wird bekräftigt, dass die Vergangenheit in der Seelsorge oder Therapie bereits aufgearbeitet worden sei. Die Person möchte offenbar zu einem ganz anderen Thema Hilfe erhalten.
Interessanterweise war schon die von Siegmund Freud begründete Tiefenpsychologie darauf ausgerichtet, die Folgen der Vergangenheit zu therapieren. Sie beabsichtigt, Menschen von den Folgen ihrer oft unschönen und schmerzhaften Vergangenheit zu befreien. Freuds Theorie war mit der Frage beschäftigt, wie man der durch die Repression der strafenden Eltern verursachten Unterdrückung des „wahren Ichs“ entkommen kann. Demnach sollten die Eltern an einem unterdrückten, von schlechten Gefühlen geplagten „Ego“ schuld sein. – Die Lösung? Das unterdrückte Ego soll durch einen professionellen Therapeuten gestärkt werden, indem er das Unbewusste, die Repression, bewusst macht (Freud: New Introductory Lectures on Psycho-Analyses). Der Therapeut wird zum
Erlöser von der unbewussten Repression der schlechten Gefühle und Bedürfnisse. Das unter der Repression leidende Ego erlebt durch das Bewusstmachen der unterdrückten Gefühle und Bedürfnisse eine „Katharsis“, eine Reinigung und Befreiung. Das in der Vergangenheit durch Repression von Bedürfnissen und Gefühlen geschädigte Ego, soll nun durch das Bewusstmachen der wahren Gefühle und Bedürfnisse Befreiung erleben.
Auch die Individualpsychologie von Alfred Adler will von der Macht der Vergangenheit befreien: Diesmal durch Erkennen und Korrektur von kognitiven Fehlzielen, die in der Kindheit durch negative soziale Einflüsse entstanden sind. Diese Korrektur wird mit Hilfe der kognitiven Rekonstruktion zu erreichen versucht. Die Ursachen der gegenwärtigen Schwierigkeiten oder Symptome sollen mit Fragen ermittelt werden, die die Vergangenheit aufgreifen; zum Beispiel: „Was sind Ihre ersten Kindheitserinnerungen?“ Sodann sollen durch die „Lebensstilanalyse“ soziale Probleme ergründet werden, die sich bereits im frühen Leben des Kindes manifestierten. – Die Lösung? Der Mensch leidet unter einem sozialen Problem. Es sind „Fehlziele“ des subjektiven Lebensstil-Konzeptes, die nun mit Hilfe eines rational denkenden Therapeuten erkannt und behandelt werden sollen. Die Behandlung geschieht vor allem kognitiv, also durch denkerische Leistung – mit Hilfe der menschlichen Vernunft und Einsicht – und soll in der Gegenwart des Therapeuten die Probleme lösen.
Eine ähnliche Frage stellt sich auch Carl Rogers, der Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie (Rogers, On Becoming A Person. S. 103): „Wie werde ich mich selber?“ Doch was ist nach Rogers die Ursache eines sich selbst suchenden Ichs, das noch nicht „sich selber“ geworden ist? Rogers nimmt an, dass der Mensch in seinen wahren positiven Gefühlen in der Vergangenheit durch die Erwartungen anderer Menschen und ihrer Kultur bestimmt oder unterdrückt worden ist und nun gemäss diesen Erwartungen handeln müsse. Deshalb fühlt er sich nicht akzeptiert und handelt nach deren übernommenen Kriterien: „Was möchten meine Eltern oder meine Kultur, das ich tue?“ Das Gefühl des Nicht-angenommen-Seins ist ebenfalls ein soziales Problem. – Seine Lösung? Bedingungslose Annahme des Klienten durch den Therapeuten in der Gegenwart (Rogers,. On Becoming a Person, S. 62 u. 104). Ein Beziehungsproblem soll durch die Person des Therapeuten gelöst werden, indem er sich durch seine bedingungslose Akzeptanz des Nächsten stellvertretend in die Klienten-Beziehung hineingibt und dadurch das negative Gefühl des Klienten in ein positives verwandelt. Dies soll dann zu der Selbstfindung des Ichs führen.
Beide Ansätze – der psychologische von Freud, Adler und Rogers und der politische – haben eines gemeinsam: Sie betrachten das Grundproblem des Menschen als ein soziales Problem, das in der Vergangenheit durch Menschen hervorgerufen wurde. Dieses Problem kann und muss auch durch Menschen (nämlich professionell ausgebildete Psychotherapeuten) gelöst werden.
Die Psychologen haben nicht einfach unrecht, wenn sie die Not der Opfer ernst nehmen und nach Lösungen suchen. Wenn ich an die Not von Menschen denke, deren Leben durch ihre Eltern oder andere Personen in ihrer Kindheit massgeblich geprägt, oder – aus einer menschlichen Perspektive betrachtet – gar zerstört worden ist, bin ich jedes Mal tief betroffen. Doch die Schlussfolgerung, dass unsere Probleme nur die Folgen der sozialen und kulturellen Vergangenheit seien, greift einfach zu kurz. Sie berücksichtigt nur die horizontale Ebene, während soziale Probleme ihre Ursache in der Gottesbeziehung haben. Soziale Probleme sind zuallererst ethisch–moralische Probleme: Sie sind aus einer veränderten Gottesbeziehung, nämlich dem Sündenfall entstanden – einem Problem aus der Vergangenheit.
Durch die erwähnten psychologischen Ansätze wird auch die Opfermentalität gefördert: Der leidende Mensch wird zum Opfer seiner Eltern, seiner Umstände oder – christianisiert – gar zum Opfer eines ohnmächtigen Gottes gemacht. Ausserdem wird er durch die sogenannt professionelle Therapie wieder in eine neue Abhängigkeit geführt wird, nämlich in die Abhängigkeit von professionellen Therapeuten. Auch christliche Seelsorgerichtungen sind dagegen nicht gefeit.
Schon David bestätigt in seinem Busspsalm, dass er sich in seinen „sozialen Problemen“ wie Ehebruch, Mord, Betrug, Lügen und anderen zuerst an Gott versündigt hatte:
"An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest." Psalm 51.6
Für Christen ist die soziale Vergangenheit, seien es nun schöne Erinnerungen oder Schmerz über erlittenes Unrecht, nicht die einzige Realität; eine Realität, die einzig durch eine einfühlsame und professionelle Therapie bewältigt werden könnte. Die Schrift bestätigt immer wieder, dass die Vergangenheit nur in der Versöhnung durch die Erlösung in Christus bewältigt werden kann (zum Beispiel 1. Mose 3,15).
Neben der sozialen Vergangenheit gibt noch eine andere, wenn auch unsichtbare, ethisch-moralische Vergangenheit, die nur durch den Glauben erkannt werden kann. Paulus schreibt an die Korinther: "Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Massen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig." 2. Korinther 4,17-18
Die unsichtbare Realität ist die Erlösung in Christus von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist eine Erlösung, die in der vergangenen Ewigkeit begonnen (Epheser 1,4) und bis in die zukünftige Ewigkeit Auswirkungen hat: die Erwählung seiner Kinder vor Grundlegung der Welt. Diese ewige Vereinigung mit Christus übersteigt alle menschliche Vorstellung von Herrlichkeit:
"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine grosse Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen." Offenbarung 21,1-4
…als Täter? Diese Erlösung „in Christus“ ist notwendig, da wir selber immer auch Täter und nicht nur Opfer sind. Wir sind einerseits Täter, weil wir seit dem Sündenfall „in Adam“ selber von Schuld und Sünde betroffen sind. Augustinus stellt in seiner Apologie „Vom Gottesstaat“ (Buch 13, Kapitel 3) fest: "Denn die Grösse ihrer Schuld brachte es mit sich, dass durch das Strafgericht ihre Natur zum Schlechterem umgewandelt wurde, so dass, was die ersten Sünder als Strafe traf, den Spätergeborenen zur Natur ward."
Deshalb sind wir Menschen von Natur aus Sünder und sündigen gegenüber der Gerechtigkeit des heiligen Gottes (Römer 5,18-19): eine Ungerechtigkeit, die so gross ist, dass sie nur durch die Strafe des ewigen Todes gesühnt werden kann (Römer 3,23 und Römer 6,23). Durch unser sündhaftes Wesen werden wir immer wieder an unseren Nächsten schuldig. Diese Täterschaft wird von Paulus im Römerbrief deutlich beschrieben, indem er alle Menschen als Sünder vor Gott beschreibt (Römer 3,22-23), die alle die gleiche Strafe verdient haben, nämlich den ewigen Tod.
…als Opfer? Andererseits werden wir immer wieder auch Opfer anderer Menschen, die an uns schuldig werden. Das Gleichnis des Schalksknechts in Matthäus 18 zeigt auf, dass die von uns begangene Sünde gegenüber Gott im Vergleich zu der an uns begangenen Sünde riesengross ist. Ja, die an uns begangenen Sünden können im Vergleich zu unseren Sünden gegenüber Gott geradezu als verschwindend klein bezeichnet werden. Diese Wahrheit kann nur im Vertrauen auf das Wort Gottes angenommen werden.
Wie sollen wir nun mit der an uns begangenen Ungerechtigkeit umgehen? Der Puritaner Jeremiah Bourroughs schreibt in seinem Büchlein „The Rare Jewel of Christian Contentment“, S. 47: "Lass dich nicht betrügen. Der Weg zur Zufriedenheit ist nämlich das Hinzufügen einer weiteren Bürde (und nicht das Loswerden der Last des Leidens), nämlich der Bürde der eigenen Sündhaftigkeit in deinem Herzen."
Welches sind diese Realitäten? Wir haben alle eine Vergangenheit, in der wir als Täter schuldig geworden sind. Damit ist nicht das soziale Problem gemeint, sondern das ethische und moralische Problem des Menschen vor Gott, das seit dem Sündenfall jeden Menschen betrifft. Denn unser ganzes Leben wird vor dem lebendigen, gerechten und heiligen Gott gelebt (R. C. Sproul, Coram Deo). Doch seit dem Sündenfall ist „etwas mehr und anderes begehren und wünschen als Gott“ zu einem Grundproblem eines jeden Menschen geworden (Kelleman, Gospel Centered Counseling. S. 136). Damit geht auch das verständliche und menschliche Begehren einher, niemals „Opfer“ von Umständen und Menschen zu werden, die an uns sündigen. Diesem Anspruch kann nur entgegengetreten werden, indem wir unsere eigene Sündhaftigkeit in das Licht eines gerechten und heiligen Gottes stellen. Eine Christus-zentrierte-Seelsorge wird den Nächsten mit Jesus zu Christus führen, damit Er ihm hilft, diese geistliche Realität durch die Augen des Glaubens zu sehen: Die Realität der eigenen Täterschaft gegenüber Gott und den Mitmenschen durch den Sündenfall und damit die eigene Erlösungsbedürftigkeit.
Josef weist seine Brüder noch auf eine zweite Realität hin: Obwohl seine Brüder es böse meinten, hatte Gott doch immer gute Absichten (Römer 8,28-29). Josef vertraute fest auf die gütige und weise Führung seines himmlischen Vaters. Die zweite geistliche Erkenntnis ist deshalb: Der souveränen und weisen Führung Gottes zu seiner Ehre und zu unserem Besten zu vertrauen.
Welche Aufgabe übernimmt die Seelsorge dabei? Seelsorger bringen deshalb ihren Nächsten mit Jesus zu Christus, denn nur dort, wo die Augen für die geistlichen, unsichtbaren Realitäten geöffnet werden ist Gnade und Gerechtigkeit zu finden: vor dem Gnadenthron. Die Gnade Gottes stillt den Hunger und Durst der durch die Sünde irregeführten Seele, die nur ein Leben ohne Leiden als lebenswert erachtet. Johannes widerspricht in seinem Evangelium diesem Irrtum der Seele, die in zeitlichem Glück ihren Trost sucht. Er verbindet „Glauben“ und „Zu-Jesus-Kommen“ miteinander: Durch dieses Zu-Jesus-Kommen wird die durstige und hungernde Seele allein gesättigt und getröstet: "Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten." Johannes 6,35
„Glaube“ und „Zu-Christus-Kommen“ werden in diesem Text einander gleichgestellt. Die geistliche Realität, dass sich unser Leben unter Gottes souveräner Herrschaft abspielt, ist erfahrbar durch den Glauben, der uns in Christus geschenkt wird. Darum führt ein Seelsorger seinen Nächsten zu Jesus. Und nicht umsonst betet Paulus für die Gläubigen in Ephesus, dass sie immer mehr die Offenbarung Jesu Christi und seine Herrlichkeit erkennen dürfen; eine Herrlichkeit, die jedes irdische Leiden in ein anderes Licht rückt: "Darum, nachdem auch ich gehört habe von dem Glauben bei euch an den Herrn Jesus und von eurer Liebe zu allen Heiligen, höre ich nicht auf, zu danken für euch, und gedenke euer in meinem Gebet, dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung, ihn zu erkennen. Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist." Epheser 1,15-19
Gott sättigt nicht unsere irdischen Begierden, sondern die Freude an der Gerechtigkeit und Herrlichkeit in Christus: Jesus selbst ist das Wasser und das Brot des Lebens. Ohne den Glauben, ohne das „Zu Jesus Kommen“ wird der bereits in sozialer Abhängigkeit lebende Mensch wieder in eine soziale Abhängigkeit gebracht. So erklärte mir eine Frau, die über ein Jahrzehnt in der Klinik verbracht hatte, dass sie nicht in die Seelsorge kommen möchte. Der Grund? Sie erklärte mir, dass sie nicht wieder in eine Abhängigkeit von Menschen geraten wolle. Das ist mehr als verständlich. Denn auch die Seelsorge in der Gemeinde ist nicht dagegen gefeit, zu kontrollieren, zu manipulieren und Menschen in menschlicher Abhängigkeit zu halten, anstatt ihnen die wirkliche Not, ihre eigene Sünde aufzuzeigen und sie auf Jesus hinzuweisen.
Not, Schuld, Schmerz, Ohnmacht und Verletzungen der Vergangenheit und können in der Gegenwart ausserordentliche emotionale Belastungen hervorrufen. Die darunter leidenden Menschen eignen sich nicht selten eine innere Haltung an, die zu Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen, somatischen Beschwerden, Konfliktunfähigkeit, Sucht oder übertriebenen Erwartungen an die Mitmenschen führt. Solche Verhaltensweisen sind jedoch für Beziehungen zerstörerisch und führen immer mehr in die eigene Isolation. Der Mensch braucht einen Ort ausserhalb von sich selbst, wo er Vertrauen, eine neue Zuversicht und Perspektive gewinnen kann. Dieser Ort kann nur die Gemeinschaft mit Jesus Christus sein (Christian Möller, Luthers Seelsorge und die neueren Seelsorgekonzepte. S. 86).
Durch den Glauben erkennen wir die unsichtbare Realität der Vergebung unserer Schuld und der Erlösung in Christus und erleben die unaussprechliche Freude an Christus und daran, was er für uns getan hat. Diese Erlösung bedeutet aber auch Leiden: nämlich Jesu eigenes Leiden an unserer Stelle am Kreuz, wodurch er uns Gerechtigkeit erworben hat (John Stott, Das Kreuz. Das Zentrum des Christlichen Glaubens. S. 434ff).
Hoffnung in der Erlösung: Wenn wir die sichtbare Ungerechtigkeit unserer sozialen, individuellen und persönlichen Vergangenheit im Licht der unsichtbaren Realität unserer eigenen Sünde gegenüber Gott und der notwendigen Erlösung „in Christus“ betrachten, gibt es Hoffnung. Denn Jesus ist gekommen um sein Volk von der Sünde zu erlösen (Matthäus 1,35).
Um das schwerwiegende soziale Problem der menschlichen Gemeinschaft, nämlich das Aneinander-schuldig-Werden, zu überwinden, muss unsere Vergangenheit als gefallene Geschöpfe Gottes „aufgearbeitet“ werden (säkular ausgedrückt). Und diese „Aufarbeitung“ – wir verwenden dafür besser den Ausdruck „ER-Lösung“ – geschieht durch die Erlösung von der eigenen Täterschaft in der Vergangenheit durch die ewige Erlösung in Christus. Paulus schreibt im Epheserbrief: "Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir, heilig und untadelig vor ihm sein sollten; in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten."
Der vor Grundlegung der Welt bereitete Segen darf uns die Augen für die Barmherzigkeit und Güte Gottes in allem Leid und Elend öffnen. Die Gnade Gottes wird in der Gegenwart durch das Wort Gottes und den Heiligen Geist „in Christus“ erlebbar und in der zukünftigen Ewigkeit „in Christus“ vollendet: Es ist die ewige geistliche Gemeinschaft mit Christus, die vor Grundlegung der Welt bereitet und in Ewigkeit vollendet wird. Dieses „In Christus-Sein“ ist das Zentrum und die Grundlage des Glaubens, auch im Leiden. Damit ist es auch die Grundlage der Vergangenheitsbewältigung. So sagt eine Sklavin, die wegen ihres Glaubens gefoltert wurde: „Im Leiden wird ein anderer für mich da sein, der für mich leidet, wenn ich für ihn leide.“ (Armin Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte. S. 33).
Wir können uns unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft ohne die Vereinigung „in Christus“ nicht vorstellen (vgl. John Murray: Redemption. S. 161 und 164). „In Christus“ sind wir erwählt und in ihm werden wir auch verherrlicht. Dies wird der letzte Akt der Erlösung sein, wenn der ganze Mensch, Körper und Seele, gänzlich in das Bild des auferstandenen, erhöhten, verherrlichen Christus umgewandelt wird: "Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus, der unsern nichtigen Leib verwandeln wird, dass er gleich werde seinem verherrlichten Leibe nach der Kraft, mit der er sich alle Dinge untertan machen kann." Philipper 3,20-21
Die irdische, soziale Vergangenheit des Menschen, darf und muss deshalb im Licht der unsichtbaren Erlösung des Menschen „in Christus“ betrachtet werden. Es ist entscheidend, wie wir die Frage „Wer bestimmt mein Leben?“ beantworten. Ist es meine soziale Vergangenheit oder meine geistliche Vergangenheit, die schon vor der Grundlegung der Welt „in Christus“ begonnen hat?
Hoffnung in der Souveränität Gottes: Es ist ebenso entscheidend, wie wir die Frage „Wer hat die Macht und die souveräne Kontrolle über mein Leben?“ beantworten. Sind es Menschen oder ist es der allmächtige Gott, der als himmlischer Vater über mir wacht? Können wir wie Josef zu seinen Brüdern im Glauben sagen: „Nicht ihr habt mich nach Ägypten geschickt. Gott hat mich nach Ägypten gebracht“? Offensichtlich haben doch die Brüder Josef nach Ägypten verkauft! Doch geistlich geöffnete Augen lesen und sehen anders: "Aber Gott hat mich vor euch hergesandt, dass er euch übriglasse auf Erden und euer Leben erhalte zu einer grossen Errettung. Und nun, ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott; der hat mich dem Pharao zum Vater gesetzt und zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über ganz Ägyptenland." 1. Mose 45,7-8
Gott ist in souveräner Kontrolle aller Dinge – auch unserer Umstände. Er spricht in unsere soziale Not, der nur durch die ER-Lösung des moralischen Problems, nämlich der eigenen Sünde und der Sünde meines Nächsten, begegnet werden kann. Jesus Christus hat sich des moralischen Problems unseres Lebens angenommen, das Grund und Ursache unserer sozialen Probleme ist. John Stott schreibt in seinem Büchlein „Einführung ins Christentum“: "Um sein Werk nun recht zu verstehen, genügt es nicht zu wissen, wer er ist, sondern wir müssen auch verstehen, wer wir sind. Er starb für uns. Ein Mensch trat für Menschen ein, einer, der allein für ihre Not zuständig war. Er war zuständig, weil er Gott war. Wir sind in Not, weil wir Sünder sind. Seine Zuständigkeit haben wir untersucht, jetzt müssen wir prüfen, inwiefern wir in Not sind und seine Hilfe brauchen."
Und Francis Schaeffer schreibt dazu (Schaeffer: Und er schweigt nicht. S. 38): "Im Bereich der Metaphysik und der Ethik stossen wir auf die philosophische Notwendigkeit, dass Gott da ist und nicht schweigt. Er hat gesprochen, und zwar in sprachlicher, logisch verständlicher Form, und hat uns mitgeteilt, was für ein Wesen er hat."
Dem fügen wir hinzu: Unser lebendiger Gott ist seinem Wesen nach gütig, barmherzig, souverän, weise und gerecht. Er hat uns in Jesus Christus geantwortet, ist uns in seinem Wort und durch seinen Geist begegnet und hat uns durch die ER-Lösung in seine Gemeinschaft aufgenommen.
Hoffnung durch die „Sehschule“ des Glaubens: Kellemen weist darauf hin, dass wir unser Leben inmitten zweier sich konkurrierender Interpretationen verbringen und uns fragen sollen, welcher Interpretationen wir glauben schenken wollen (Kellemen: S. 88): dem Wort Gottes oder unserer eigenen Interpretation Gottes und der Welt (und damit auch unserer Vergangenheit). Paulus schreibt an die Gemeinde in Kolossä: "Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus." Kolosser 2,8
Was ist denn unsere Aufgabe inmitten eines Lebens, das durch Leiden und Sünde- sowohl unsere eigene als auch die anderen Menschen – von Schmerzen, Ohnmacht, Verzweiflung und Krankheit geprägt ist? Dies: Unser Leben durch die geistlichen Augen zu interpretieren und uns nicht durch die eigene und die Sünde anderer Menschen betrügen und zu weiterer Sünde verleiten zu lassen (Hebräer 3,13). Sonst werden wir die Welt nur durch die körperlichen, irdischen Augen sehen und verstehen können und damit blind sein für die unsichtbare, geistliche Realität (vergleiche Jesaja 6,2; 2. Könige 6,14-17; Epheser 1,16-23; Offenbarung 4,5 und Offenbarung 21). Paulus schreibt deshalb an die Gemeinde in Korinth: "Uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; aber was unsichtbar ist, das ist ewig." 2. Korinther 4,18
Es ist eine Art Sehschule, die wir im Glauben einüben. Luther wandte diese Sehschule in seiner Seelsorge immer wieder an und beherrschte das Einüben der Seh-Kunst des Glaubens, ohne belehrend oder moralisch zu wirken. So schreibt Luther 1520 in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: "Das, was Christus hat, das ist Eigentum der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird Eigentum Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die sind Eigentum der Seele; so hat die Seele alle Untugenden und Sünden auf sich liegen - die werden Eigentum Christi. Hier beginnt nun der fröhliche Tausch und Streit: weil Christus Gott und Mensch ist, der noch nie gesündigt hat, und seine Rechtschaffenheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden, wenn er die Sünden der gläubigen Seele durch ihren Brautring, das heisst den Glauben, sich selbst zu eigen macht und so handelt, wie er gehandelt hat. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark; so wird die Seele von all ihren Sünden einzig durch ihr Brautgeschenk, das heisst um des Glaubens willen, frei und los und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus beschenkt."
Unseren Blick – gefangen von menschlicher Vernunft, sozialen Zwängen, irdischen Qualen und Schuld – weist Luther weg von uns, hin auf unsere Gemeinschaft „in Christus“. Er ermutigt uns, den Blick mit den Augen des Glaubens auf den guten Hirten, Jesus Christus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, zu richten (Psalm 23; Hebräer 12,1-3).
John Owen verweist in seinem Buch „Die Herrlichkeit Christi“ auf das Bild des Ölbaums in Römer 9 bis 11. Christen sollen sich vom Saft des Ölbaums nähren, von Jesus Christus, der das Leben ist. Der Ölbaum vor unseren Augen des Glaubens weist uns auf die Treue unseres himmlischen Vaters von Ewigkeit zu Ewigkeit hin. An dieser Stelle schliesst unser Text von Josef nahtlos an: "Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein grosses Volk."
Josef verlor den Blick auf das gütige Handeln Gottes, das von Ewigkeit zu Ewigkeit dauert, auch im Leiden nicht (siehe Hebräer 12,2). Er hätte sich sonst „an Gottes statt“ gestellt und damit selber zu Gott erhoben, wie er es zu seinen Brüdern sagte. So aber hätte er die zentrale Grundlage seines Lebens verschmäht: die erlösende Gemeinschaft „in Christus“. Alles dient zu Gottes Ehre und zu unserem Besten. Josef geht in Demut den Weg der Gerechtigkeit (Sprüche 4,18). Und Gottes Ehre ist es, „ein grosses Volk zu erhalten“: Dies sind seine Kinder, die vor Grundlegung der Welt in Christus erwählt und errettet worden sind. Was in der ewigen Vergangenheit in Christus begann, wird in der ewigen Zukunft in Christus vollendet. Wir lesen am Ende der Offenbarung:
"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine grosse Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen." Offenbarung 21,1-4
Die Sicht auf die unsichtbare geistliche Realität in unserem Leben hilft uns, unsere soziale Vergangenheit mit der geistlichen Vergangenheit der Erlösung „in Christus“ zu überschreiben. Wir dürfen unseren treuen und barmherzigen, gerechten und heiligen Gott im Gebet um die Gnade bitten, uns in die Sehschule des Glaubens zu nehmen, um den Blick unserer geistlichen Augen für das Unsichtbare zu schärfen:
"0, Herr, Ich halte mich fest an dir;
ich sehe, glaube, lebe, wenn dein Wille und nicht mein Wille geschieht.
Ich kann mich auf nichts in mir selbst berufen;
da ist weder Würdigkeit noch Gnade,
um mich auf deine Fürsorge oder Verheissungen zu stützen;
Ich berufe mich allein auf dein gnädiges Wohlgefallen.
Wenn deine Gnade mich arm und elend macht: Dir allein die Ehre!
Gebete, die aus meinen Bedürfnissen aufsteigen, sind die Vorboten kommenden Segens.
Hilf mir, dich zu ehren, indem ich glaube, bevor ich fühle,
denn gross ist die Sünde, wenn ich die Gefühle zum Grund meines Glaubens mache."
The Valley of Vision. A Collection Of Puritan Prayers and Devotions. Edinburgh. The Banner Of Truth Trust. S. 9
Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat
Bourroughs, Jeremiah (1995): The Rare Jewel of Christian Contentment. Edinburgh: The Banner Of Truth Trust.
Kellemen, Robert, W. (2014): Gospel-Centered Counseling. Grand Rapids, MI: Zondervan
Möller, Christian (1992): Luthers Seelsorge und die neueren Seelsorgekonzepte. In Theologische Beiträge. S. 86.
Murray, John (1955): Redemption. Accomplished and Applied. Grand Rapids. MI: Eerdmans Publishing Co.
Schaeffer, Francis (1991): Und er schweigt nicht. Wuppertal: Brockhaus
Schaeffer, Francis (1976): Wie können wir denn leben? Holzgerlingen: Hänssler Verlag
Sierszyn, Armin (2013): 2000 Jahre Kirchengeschichte. SCM. Brockhaus
Sproul, R. C.: Coram Deo
Stott, John (1986): Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens. Francke- Verlag
Stott, John (1973): Einführung ins Christentum. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag
Owen, John (2001): Die Herrlichkeit Christi. Waldems: 3L Verlag