"Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird,
so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst,
dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen."
Das Wort „Seelsorge“ als solches ist in der Bibel nicht zu finden. Was ist denn Seelsorge überhaupt? Schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden begleitende und beratende Seelsorge unterschieden, und heute ist die Seelsorge weitgehend professionalisiert: Methode und angewandtes psychologischen Wissen sind die behaupteten Voraussetzungen, um dem Nächsten zu helfen. Paulus zufolge betrifft Seelsorge alle Christen.
Denn Seelsorger sind wir zu jeder Zeit: Entweder reflektieren wir unserem Nächsten gegenüber die Sanftmut und Demut von Christus oder unsere eigene Ungerechtigkeit. Mit dem Nächsten meint die Schrift jeweils den Menschen, dem wir gerade begegnen, seien es unser Ehepartner, unsere Kinder, unser Vorgesetzter oder der Nachbar. Wie genau beschreibt doch der Apostel Paulus in unserem Text den Dienst der Seelsorge! Mindestens vier Aspekte werden in diesem Text hervorgehoben.
Mit einem sanftmütigen Geist. Das ist aber nur in Christus möglich, denn er allein ist sanftmütig und demütig (Matthäus 11,29). Eine Christus-zentrierte Seelsorge erinnert uns immer wieder daran, dass wir ohne unseren Herrn Jesus nichts tun können. Für Paulus sind deshalb nicht die Professionalität, das sogenannte Fachwissen oder die erlernte Methodik für die Seelsorge ausschlaggebend; vielmehr sollen wir abnehmen und Jesus Christus in uns zunehmen (Johannes 3,30).
Entscheidend für den Apostel ist die innere Haltung gegenüber dem Nächsten und gegenüber dem gemeinsamen Erlöser Jesus Christus. Ist er unser Herr und König, dem wir in Sanftmut und Demut dienen? Thomas Watson lässt uns in seinem Buch „The Godly Man’s Picture“ betreffend Demut folgende Fragen stellen: Ist der Seelsorger willig, seinen Dienst in den Schatten zu stellen, damit Gott geehrt wird? Ist er bereit, sich selber, seine Begabung und sein Ansehen in den Schatten zu stellen, damit die Krone Christi noch heller scheint? – Und ist uns die Ehre Gottes wichtiger als unsere eigene?
Das Wort Zurechtbringen wird in verschiedenen Bedeutungen verwendet:
Die Bedeutung ist demnach, etwas Zerbrochenes oder Schadhaftes zu seinem ursprünglichen Gebrauch wiederherzustellen. Kinder Gottes sind dazu berufen, ihrem Erlöser zu dienen. Gemäss Epheser 4,12 werden wir ausgerüstet zum Werk des Dienstes, damit der Leib Christi auferbaut wird. Seelsorge ist demnach nicht Selbstzweck: Es geht darum, Christus noch besser kennen zu lernen. John Piper schreibt: „Es ist nicht unser Ziel in der Seelsorge, den Menschen zu helfen, dass sie sich als wertvoll ansehen, sondern dass sie Christus als Schatz des Lebens umfassen.“
Wenn nun Christus als „Schatz des Lebens“ umfasst wird, entsteht daraus die Frucht des Dienstes. So schreibt Augustinus über seine Sündenerkenntnis, die ihn heil werden liess und zum Werk des Dienstes befähigte (Bekenntnisse X.43): „Erschreckt durch meine Sünden und durch die Masse des Elendes, hatte ich bereits im Geiste nachgedacht und überlegt, ob ich nicht in die Wüste fliehen solle. Aber du hast mich abgehalten und mich durch dein Wort gestärkt. ‚Deshalb ist Christus für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr sich leben, sondern dem, der für sie gestorben ist.‘ Sieh, Herr, auf dich werfe ich meine Sorge, damit ich lebe, und ‚ich will betrachten die Wunder deines Gesetzes‘. Du kennst meine Unwissenheit und meine Schwachheit; lehre mich und heile mich! Er, dein Eingeborener, ‚in dem alle Schätze der Wissenschaft und der Weisheit verborgen sind‘, hat mich mit seinem Blute erlöst.“
Wenn Sünde jemanden daran hindert, das Werk des Dienstes auszuüben, sollen wir, die geistlich sind, ihm durch das Wort Gottes wieder zurechthelfen – zu wahrer Gottes- und Selbsterkenntnis. Also zurechtgebracht, haben wir als Frucht die Werke, die Gott zuvor in Jesus Christus bereitet hat (Epheser 2,8-10).
Paulus weist uns darauf hin, in unserem Dienst am Nächsten auf uns selbst zu sehen. Schon Salomo schreibt: „Bewahrt euer Herz mit allem Fleiss, denn daraus quillt das Leben.“ (Sprüche 4,23). Wie schnell verachten wir unseren Nächsten, weil er sich „unmöglich“ verhalten hat. Wir achten in unserem Stolz unseren Nächsten nicht höher als uns selber (Philipper 2,3).
Mit anderen Worten: Uns fehlt die nötige Demut und Sanftmut. Wir sollen deshalb darauf achten, dass wir in unserer Überheblichkeit nicht selbst fallen (1. Korinther 10,12) und schuldig werden. Wir ärgern uns zuweilen über unseren Nächsten, weil er unsere Erwartungen nicht erfüllt hat. Wir werden ungeduldig oder setzen Druck auf, weil wir als Seelsorger nicht versagen wollen. Unsere eigene Ehre steht auf dem Spiel. Oft kontrollieren wir unseren Nächsten mit frommen Worten, um ihn zu einem von uns gewünschten Verhalten zu manipulieren. Dazu gehören Worte wie „Du musst endlich aufhören“ oder „Das musst du endlich machen“ oder eine To-do-Liste. Damit stellen wir jedoch unseren Nächsten unter das Gesetz: Er soll endlich unseren eigenen Vorstellungen oder dem gewünschten Verhalten entsprechen. Auch bei unseren Kindern sind wir als Eltern Seelsorger(!).
Doch wenn wir ihnen drohen, Strafen einsetzen oder sie mit einem Belohnungssystem manipulieren, um sie zum Gehorsam zu bringen, verwenden wir die Mittel des Gesetzes und nicht der Gnade. Darum wollen wir unseren Nächsten mit einem demütigen und sanftmütigen Herz in die Gemeinschaft der grossen Sünder in Christus aufnehmen (wie Martin Luther es formulierte) und durch den Geist Christi unsere Herzen gegenüber dem Wort Gottes weich genug und gegenüber der Sünde hart wie Stein machen.
Darin besteht das Werk des Dienstes in der Gemeinde Christi: dass einer die Last des andern trage. Denn so, schreibt Paulus, erfüllen wir das Gesetz Christi. Die Schwachheit des Nächsten ist also nicht ein Übel, das uns Gott auch noch vor die Füsse gestellt hat. Vielmehr ist die Last unseres gestrauchelten Nächsten unser Auftrag. Indem wir ihn wahrnehmen, erfüllen wir das Gesetz Christi.
Zusammen mit dem angefochtenen und gestrauchelten Nächsten den Weg mit Jesus zu Jesus unter die Füsse zu nehmen – das bedeutet, das Gesetz Christi zu erfüllen. Das Ziel des gemeinsamen Weges zu Dritt ist der Thron Gottes (Hebräer 4,15ff), wo uns und unserem Nächsten die heilsame Gnade Gottes begegnet. Diese Gnade Gottes ist es, die uns wiederum herstellt und zurüstet für den Dienst an unserem Nächsten zur Ehre Gottes.