Wie ja auch David den Menschen seligpreist, dem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke:
»Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind! Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet!«
Die Frage nach der Identität ist auch in christlichen Kreisen weit verbreitet. Der Ausdruck „Identität“ hat seinen Ursprung in der Psychologie und kann daher nicht ohne Weiteres in die Schrift integriert werden. Wie aber versteht die Schrift den Menschen? Der Mensch als Geschöpf wird als „lebendige Seele“ (hebräisch Kehle) definiert, die ihren Hunger und Durst stillen muss: entweder aus einer selbstgebauten Zisterne, um das Verlangen der Sünde zu stillen, oder bei Gott, um ihm zu dienen und damit Anteil an seiner Ehre zu habe.
„Sage mir, wem du dienst, und ich sage dir, wer du bist.“ So lässt sich die Frage nach der Identität des Menschen aus christlicher Sicht stellen. Trinken wir aus der rissigen Zisterne (Jeremia 2,13) oder aus der lebendigen Quelle? Stillen wir den Durst der Sünde oder den Durst nach Gerechtigkeit? Die Antworten auf diese zwei Fragen weisen auf unsere „Identität“ hin: die Scham „in Adam“ oder die Ehre „in Christus“.
Oft werde ich darauf angesprochen, was denn die Identität eines Christen ausmache. Besteht sie in der Zugehörigkeit zu einer christlichen Gemeinde? Ist es unser Beruf, unsere erbrachte Leistung, unsere akademische Bildung? Ist es unsere Stellung als Ältester oder angesehenes Mitglied in der Gemeinde? Oder ist es der Wunsch, einer bestimmten Gruppe von Menschen anzugehören und deren Anerkennung zu finden? Beschäftigt uns die Frage, wo und durch welche Tätigkeit wir Bedeutung und Sinn im Leben finden? Ist es…? Vielleicht füllen wir den leeren Platz in der letzten Frage gleich selber aus.
Die Frage nach der Identität könnte auch anders beantwortet werden. Zum Beispiel: Ich bin depressiv. Ich habe ein ADHS. Ich bin psychisch krank. Ich bin homosexuell. Ich fühle mich minderwertig. Ich bin Pastor. Ich bin ein Sünder. Ich bin Präsident von… Oder auch: Ich genüge nicht, weder mir noch anderen noch Gott; ich habe mein Leben durch meine eigene Schuld verwirkt… – alles Aussagen, die etwas über meine Identität, über das Wesen meiner Person aussagen, nämlich: für wen oder wofür ich lebe. Oder, wie wir später erkennen werden, wonach ich hungere und dürste. Denn das sind die Kriterien, mit denen die Bibel die Frage nach der Identität des Menschen beantwortet.
Aber sind solche Aussagen nicht einfach Unterstellungen? Wie sollten Christen ihre Identität in diesen Dingen finden? Für sie ist doch eigentlich klar: Meine Identität ist in Jesus Christus! Oder wie ein christlicher Autor schreibt: „Die einzige Identitätsgleichung, die im Reich Gottes aufgeht, ist: Ich + Jesus Christus = Ganzheitlichkeit und Bedeutung.“ Damit ist die Frage eigentlich beantwortet. Punkt. Schluss. – Oder eben doch nicht ganz?
Die Frage nach der Identität wird in der Bibel nirgendwo so gestellt, wie wir es tun. Um die Frage zu verstehen, sollten wir daher die Herkunft des Begriffes „Identität“ kennen und gleichzeitig darüber nachdenken, wie die Schrift die Frage nach der Identität stellt.
Sigmund Freud, der den Begriff wohl als erster benutzte, beschreibt damit die inneren Konflikte des Menschen mit den drei Ich-Zuständen: Dem Über-Ich, dem Ich und dem Es. Er lenkte damit den Blick auf die inneren Vorgänge der menschlichen Psyche, die er „Ich“ nannte. Seit Erik Erikson, dem Entwicklungspsychologen und Schüler Freuds, wurde der Ausdruck „Identität“ im Zusammenhang der „Ichs“ auch in der Umgangssprache etabliert. Die christliche Gemeinde nahm diesen Begriff eher unreflektiert(?) auf und integrierte ihn in ihr theologisches und seelsorgerliches System; zum Beispiel Walter Wanner: Jugendpsychologie. Wer bin ich? Wer bist du? (1975) Brunnen-Verlag und Michael Dietrich: Handbuch Psychologie und Seelsorge. (1969) Brockhaus Verlag.
Wir können jedoch den Ausdruck „Identität“, der vom psychologischen System Sigmund Freuds stammt, nicht unbesehen übernehmen und in die Schrift integrieren. Es ist sinnvoll, den umgekehrten Weg zu gehen und zu fragen, wie die Schrift den Menschen beschreibt und die Frage nach der sogenannten „Identität“ des Menschen stellt. So geht es zuerst darum zu erkennen, was der Mensch ist und die Auswirkungen des Sündenfalls und der Erlösung auf ihn zu verstehen.
Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes und von ihm abhängig. Die Schrift beschreibt dies so: „Da bildete Gott, der HERR, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele.” (1. Mose 2,7) Der hebräische Ausdruck „eine lebendige Seele“ bedeutet „Kehle“ (vgl. Wolff, Anthropologie des Alten Testamentes).
Der Mensch, die lebendige Seele, hat schöpfungsgemäss ein brennendes Begehren und Verlangen nach seinem Schöpfer, wie es Psalm 42 ausdrückt: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ (Psalm 42,2-3)
Von Anfang an war der Mensch ein abhängiges und bedürftiges Geschöpf Gottes, abhängig von der Gerechtigkeit Gottes, die das Bedürfnis der „Kehle“ stillt. Nach dem Sündenfall stillt der Mensch aber seinen Hunger und Durst nicht mehr beim lebendigen Gott, sondern bei seinen falschen Göttern. Der Prophet Jeremia schreibt, dass der Mensch seinen Gott, die lebendige Quelle, verlassen habe und sich eigene Zisternen mache, um den Hunger und Durst seiner Begierden an einer fremden Quelle zu stillen: „Denn mein Volk tut eine zwiefache Sünde: mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich Zisternen, die doch rissig sind und kein Wasser geben.” (Jeremia 2,13)
Die Begierden des gefallenen Menschen sind nicht zu sättigen. Die Sprüche lehren: „Der Blutegel hat zwei Töchter, die heissen: »Gib her, gib her!« Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie: »Es ist genug.«" (Sprüche 30,15)
Nur wer sich von den Begierden und den falschen Göttern abwendet und den Durst und Hunger bei Jesus stillt, wird genährt: „Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ (Johannes 6,35)
Jesus ist jedoch nicht ein blosser Bedürfnisstiller, sondern unser Erlöser. Er befreit uns von der Sklaverei unserer Begierden, damit wir von nun an ihm dienen, ihm die Ehre geben, ihm gehorchen. So fragt und antwortet der Kleine Westminster Katechismus.
Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen. Und Paulus schreibt im Brief an die Gemeinde in Thessalonich: „…wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern [= Begierden, Götzen], zu dienen dem lebendigen und wahren Gott.“ (1. Thessalonicher 1,9)
Aurelius Augustinus beschreibt den Wechsel des Dienstverhältnisses, weg von Götzen in den Dienst Gottes, in seinen Bekenntnissen (IX.1) wie folgt: „Nicht mehr wollen, was ich will, und wollen, was du willst. Aber wo war denn in so langen Jahren mein freier Wille, und aus welcher tiefen und geheimnisvollen Verborgenheit wurde er jetzt in einem Augenblicke hervorgezogen, auf dass ich meinen Nacken unter dein sanftes Joch beugte und meine Schultern unter deine leichte Bürde, Jesus Christus, „mein Helfer und mein Erlöser?" Wie süss wurde es mir plötzlich, die Süssigkeiten nichtiger Dinge zu entbehren; und wenn ich sonst ihren Verlust gefürchtet hatte, so war ich jetzt froh, ihrer ledig zu sein. Denn du nahmst sie von mir, du wahre und höchste Süssigkeit, du nahmst sie hinweg von mir und zogest an ihrer Stelle ein, du süsser denn alle Lust, wenn auch nicht für Fleisch und Blut, du heller denn jedes Licht, aber innerlicher als das verborgenste Geheimnis, du erhaben über jegliche Ehre, aber nicht für die, die sich selbst erhaben dünken. Mein Geist war jetzt frei von den verzehrenden Sorgen des Ehrgeizes und der Gewinnsucht, des Wälzens und Scharrens im Schlamme der sinnlichen Lust; und ich plauderte mit dir, meinem Lichte und meinem Reichtum und meinem Heile, mit dir, meinem Herrn und Gott.“
Nur die Erlösung und Befreiung von der Macht der Sünde, um dem wahren und lebendigen Gott zu dienen, vermag den Durst und Hunger der „Kehle“, nämlich der lebendigen Seele, so zu stillen, dass sie wirklich gesättigt ist. Denn indem der Mensch die lebendige Quelle, seinen Schöpfer, verlässt, vertauscht er
Das Wesen – die „Identität“ – des gefallenen Menschen besteht darin, dass er den Hunger und den Durst seiner Seele selbst zu stillen versucht. Diese seine Sünde lässt den Menschen aber entblösst und beschämt zurück. Unmittelbar nach dem Sündenfall werden die Scham über den Verlust der Ehre als erste Emotion und die darauf folgende Selbstbedeckung geschildert: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ (1. Mose 3,7)
Paulus entfaltet im Römerbrief als zentrales Thema das Wesen des Menschen und seine Erlösung. Er beschreibt denjenigen Menschen als „glücklich“, „selig“ oder „gesegnet“, dem Gott die Sünden nicht anrechnet und dessen Sünde mit der Gerechtigkeit Christi bedeckt ist. Wie ja auch David den Menschen selig preist, dem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke: „Selig [griech.: makarios = geehrt] sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind! Selig [griech.: makarios = geehrt] ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet!“ (Römer 4,6-8)
Der „in Christus“ erlöste und gerechtfertigte Mensch ist das Werk Jesu, das er zu seiner Ehre sichert und bewahrt: „Hilf du uns, Gott, unser Helfer, um deines Namens Ehre willen! Errette uns und vergib uns unsre Sünden um deines Namens willen!“ (Psalm 79,9). Die Erlösung wird hier unmissverständlich mit dem Namen und der Ehre Gottes verbunden. So auch in Psalm 23: „Er führet mich auf rechter [Hebräisch: = Gerechtigkeit] Straße um seines Namens willen.“ (Psalm 23,3)
Das griechische Wort „makarios“, das oben mit „glücklich“ oder „gesegnet“ umschrieben wird, sollte besser mit dem Ausdruck „geehrt sind“ übersetzt werden ( vgl. Neyer, S. 164ff), denn die Erlösung proklamiert die Ehre Gottes, nicht die unsere! Warum wohl? Die Propheten machen deutlich, dass Sünde und Sündenerkenntnis uns beschämen und beschämen sollen (Jeremia 6,15 und Esra 9,6).
Thomas Watson schreibt dazu: „Die Sünde hat uns nackt gemacht, und das muss uns beschämt machen. Die Sünde hat uns unsere weisse Leinwand der Heiligkeit ausgezogen. Sie hat uns in den Augen Gottes nackt gemacht und entstellt, was uns schamrot machen sollte.“ (Watson, S. 52) Indem Paulus im 4. Kapitel des Römerbriefes aus Psalm 32 zitiert, macht er deutlich: Der Mensch, der die Sünde erkennt, erkennt auch, dass er vor Gott nackt und beschämt ist. Er braucht daher eine Bedeckung. Die Erlösung von der Schuld und Scham besteht darin, dass Gott uns einerseits vergibt, uns mit ihm selbst versöhnt, und anderseits unsere Blösse mit seiner Gerechtigkeit bedeckt.
Gott, unser Herr, spricht durch den Propheten Hesekiel folgendes tröstendes Wort: „Da breitete ich meinen Mantel über dich und bedeckte deine Blösse. Und ich schwor dir's und schloss mit dir einen Bund, spricht Gott der HERR, dass du solltest mein sein.“ (Hesekiel 16,8) Diese Worte aus dem Propheten Hesekiel sind unglaublich ermutigend, wenn wir das Elend unserer gefallenen Natur erkennen. Unsere Scham wird bedeckt, und wir sind in einen ewigen Bund in Christus hineingenommen, so „dass wir nicht mehr uns selber gehören, sondern unseres getreuen Heilandes eigen sind“ (siehe Heidelberger Katechismus, Frage und Antwort 1).
Wer in Christus ist, hat keine Anklage, keine Strafe und keine Verdammnis mehr zu fürchten (Römer 8,1). Auch die ganze Scham hat Christus am Kreuz auf sich genommen. So in Hebräer 12,1-3 und Paulus im Römerbrief: „Denn auch der Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: »Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.«“ (Römer 15,3) Im Gegenzug (siehe 2. Korinther 5,21) schenkt uns Christus seine rechtfertigende Bedeckung und seine Ehre, die er vom Vater durch sein Gehorsam erhalten hat: „Aber du, HERR, bist der Schild für mich, du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor.” (Psalm 3,4)
So geht es nun nicht um eine Formel wie “Ich + Jesus Christus”, sondern, um den Bund Gottes mit seinen Kindern: Sie gehören ihm, weil er sie teuer erkauft hat. Die Formel „Jesus + ich“ ist eine religiöse Form der Selbstverwirklichung und gleichzeitig ein Ausdruck frommer Gesetzlichkeit. Die theologische Wahrheit der Reformation „Christus allein“ wird durch eine persönliche Leistung oder eben eine selbstgebaute Zisterne, aus der der Mensch seine persönlichen Begierden stillt, ergänzt zu: „Jesus +…“ (Welch, Updating our Theology: Legalism and Faith). Zur Rechtfertigung „allein in Christus“ wird eine menschliche Komponente der Selbsterlösung hinzugefügt.
Auch Martin Luther macht deutlich, dass die Schrift keine Formel „Jesus + …“ kennt. Die ER-Lösung heisst „Solus Christus“. Dem darf nichts mehr hinzugefügt werden, um nicht einem fremden Evangelium, einem Legalismus, zu verfallen. Luther schreibt in dem Brief an Georg Spenlein vom 8. April 1516: „Darum, mein lieber Bruder, lerne Christus kennen, und zwar den gekreuzigten; lerne ihm zu singen und in der Verzweiflung an dir selbst zu ihm zu sagen: Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde. Du hast auf dich genommen, was mein ist, und mir geschenkt was dein ist. Du hast auf dich genommen, was du nicht warst, und mir geschenkt, was ich nicht war.“ Die Identität ist eine von Ihm geschenkte Identität und kann nicht losgelöst von der Person Jesus Christus, der uns seine Identität, nämlich „dass er auf sich genommen hat, was er nicht war und mit gegeben, was ich nicht war.“
Und der Heidelberger Katechismus redet eindrücklich in seiner ersten Frage und Antwort: Was ist dein Einziger Trost im Leben und im Sterben? "Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben."
Jesus Christus ist mein Retter und Erlöser, der mich vor Verachtung und Scham bedeckt. Ich muss abnehmen, er muss zunehmen (Johannes 3,30). Es geht nicht um mich, sondern darum, was Jesus Christus für mich getan hat: um den Bund der Erlösung, der uns aus der Scham in der Sünde zur Ehre „in Christus“ führt. Seine uns geschenkte Gerechtigkeit wird nun zu unserer Ehre. Darum können wir uns an ihm erfreuen, wie der Kleine Westminster Katechismus bereits feststellt.
Worüber müssen wir uns schämen, bevor wir in Christus erlöst worden sind? Darüber, dass wir in der Sünde unseren falschen Göttern, denen wir dienten, gleich wurden. „Ihre Götzen aber sind Silber und Gold, von Menschenhänden gemacht. Sie haben Mäuler und reden nicht, sie haben Augen und sehen nicht, sie haben Ohren und hören nicht, sie haben Nasen und riechen nicht, sie haben Hände und greifen nicht, Füße haben sie und gehen nicht, und kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Die solche Götzen machen, sind ihnen gleich, alle, die auf sie hoffen.“ (Psalm 115,4-8)
Wir spiegeln die Hässlichkeit der Sünde wider, der wir dienen und angehören. Dies entspricht auch dann der Wahrheit, wenn wir die Scham der Sünde nicht empfinden: „Wir haben sogar die Scham weggesündigt“, schreibt Thomas Watson (Watson, S. 54). Denn der Ungerechte kennt keine Scham (Zephania 3,5). Und vielleicht das Schlimmste: Wir lieben die Sünde mehr als Christus. So werden wir zu dem, was wir lieben und dem wir dienen: taub für das Evangelium, blind für die Herrlichkeit von Jesus Christus; leblos, wie ein Stück einer hölzernen oder silbernen Baalsfigur, spiegeln wir unsere eigene Torheit und Hoffnungslosigkeit wider. Das Wesen der Sünde wird immer mehr zu unserer „Identität“. Die sogenannte „Identität“ des Menschen „in Adam“ besteht darin, dass der Mensch ohne Christus
Er ist sein eigener König, Priester und Prophet:
„In Christus“ hingegen, werden wir Jesus Christus gleich gemacht (2. Korinther 3,18) und reflektieren damit seine Ehre und Herrlichkeit: „Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“ (Römer 8,29-30)
Die Hauptbedeutung des griechischen Wortes „makarios“ ist die Ehre Gottes, die ein Mensch durch die Erlösung und Rechtfertigung in Christus erhält. Und diese Ehre, die uns durch die Erlösung „in Christus“ zuteil wird, macht das aus, was wir heute Identität nennen. Mit anderen Wort: Nicht „Ich + Jesus“ macht mich zu einer neuen Kreatur, sondern dass ich „in Christus“ bin. So schreibt Paulus: „Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2. Korinther 5,17)
Eine neue Kreatur? Ja, wirklich, „eine neue Schöpfung“, was das griechische Wort an dieser Stelle bedeutet. Anders gesagt: Menschen, die in Christus sind, haben in der Sprache der Moderne eine neue „Identität“. Was macht diese neue Schöpfung aus? Während die alte Schöpfung „in Adam“ ist, ist der wiedergeborene Mensch die neue Schöpfung „in Christus“.
Für Menschen „In Christus“ hat sich eine grundlegende Änderung eingestellt. Martin Luther beschreibt diese Erlösung in seinem Werk „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520): „Das, was Christus hat, das ist Eigentum der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird Eigentum Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die sind Eigentum der Seele; so hat die Seele alle Untugenden und Sünden auf sich liegen - die werden Eigentum Christi. Hier beginnt nun der fröhliche Tausch und Streit: weil Christus Gott und Mensch ist, der noch nie gesündigt hat, und seine Rechtschaffenheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden, wenn er die Sünden der gläubigen Seele durch ihren Brautring, das heisst den Glauben, sich selbst zu eigen macht und so handelt, wie er gehandelt hat. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark; so wird die Seele von all ihren Sünden einzig durch ihr Brautgeschenk, das heisst um des Glaubens willen, frei und los und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus beschenkt.“
Beispiellos beschreibt Luther die Beziehung der Kinder Gottes zu ihrem Erlöser und erinnert uns damit an das Geheimnis der Erlösung, wie es Paulus im 5. Kapitel des Epheserbriefes als Beziehung der Braut zu ihrem Bräutigam ausführt. Die Gläubigen „in Christus“ haben eine ewigen König, einen einzigen Priester und einen wahren Propheten, der sie mit seiner Macht, Wahrheit und Gerechtigkeit umgibt. Sie sind im ewigen Bund „in Christus“ eingebettet und mit seiner Ehre und Herrlichkeit bedeckt:
Die „Identität“ des erlösten Menschen „in Christus“ besteht darin, dass er
Der Heidelberger Katechismus (1564) lehrt dazu:
Das Wesen – oder mit dem psychologischen Wort ausgedrückt, die „Identität“ – von Jesus Christus ist der Gehorsam gegenüber seinem Vater im Himmel. Das nämlich ist sein Hungern und Dürsten: nach Gerechtigkeit, nach Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes. „Jesus spricht zu ihnen: Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.“ (Johannes 4,34)
Kinder Gottes, die Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit widerspiegeln wollen und dazu die Ehre (Identität) von Jesus Christus in Anspruch nehmen, erkennt man an den folgenden zwei Prüfsteinen:
Zum ersten Prüfstein schreibt Martyn Lloyd Jones [1]: „Der erste Prüfstein ist folgender: Durchschauen wir unsere eigene falsche Gerechtigkeit? Das wäre der erste Hinweis, ob jemand nach Gerechtigkeit hungert und dürstet. Bevor jemand nicht den Punkt erreicht, seine eigene Gerechtigkeit als nichts anzusehen oder, wie die Heilige Schrift sagt, „wie ein beflecktes Kleid“ (Jesaja 64,5), hungert und dürstet er nicht nach der Gerechtigkeit.“ Das Wesen, die „Identität“, der Sünde weigert sich permanent, die Gerechtigkeit in Christus zu suchen, sondern badet sich lieber im Selbstmitleid, in der Selbstgerechtigkeit und der Selbstsühne und schiebt die Schuld – wie Adam und Eva – dem andern und Gott zu. Darum lasst uns beten, dass Gott uns die Sünde aufzeigt und wir sie vor unserem himmlischen Vater bekennen dürfen.
Dann schreibt Lloyd Jones weiter, dass das Dürsten nach der Gerechtigkeit auch ein aktives Element enthält [2]. Sünde aktiv zu meiden, das ist der zweite Prüfstein: „Wenn jemand wirklich nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, wird er ohne Zweifel alles meiden, was mit dieser Gerechtigkeit nicht in Einklang steht.“ Josef wehrte sich mit allen Mitteln gegen das Sündigen gegen seinen gerechten und heiligen Gott und widerstand der Versuchung durch die Frau des Potifar, indem er sich an der Schrift orientierte und sagte: „Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?“ (1. Mose 39,9). So floh er vor der Sünde (Jakobus 4,7; 1. Korinther 10,14) und trachtete aktiv nach der Gerechtigkeit Gottes und seinem Reich.
Nochmals zu Lloyd Jones: „Ich sage, zu hungern und zu dürsten nach der Gerechtigkeit, heisst sie [die Sünde] wie die Pest meiden.“ Darum beinhaltet die Frage nach der Identität eines Menschen die folgenden zwei Fragen:
Unsere Antworten auf diese zwei Fragen zeigen unsere Identität. Stillen wir den Durst unserer Begierden an den rissigen, selbstgemachten, selbstgerechten Zisternen, so ist unsere Identität die der Sünde. Oder stillen wir unseren Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit Gottes an der göttlichen Quelle des Lebens, Christus? Dann ist unsere Identität „in Christus“. Gnade und Barmherzigkeit Gottes ist es, wenn uns die Ehre der Seligpreisung zuteil wird: „Selig [= geehrt] sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6)
Beten wir darum mit dem Psalmisten und halten wir uns an die Unterweisung des Psalms: „Eine Unterweisung der Söhne Korach, vorzusingen. Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?" (Psalm 42,1-3)
Soli Deo Gloria. AMEN
[1] Lloyd-Jones, Martyn D. (2003): Bergpredigt. Ich aber sage euch. Predigten über Matthäus 5. 3- 48. Waldems: 3 L Verlag. S. 108f
[2] Lloyd-Jones, Martyn D. (2003): Bergpredigt. Ich aber sage euch. Predigten über Matthäus 5. 3- 48. Waldems: 3 L Verlag. S. 109f