Der Königsweg

Beat Tanner

"Den aber, der »eine kleine Zeit niedriger gewesen ist als die Engel«, Jesus, sehen wir durch das Leiden des Todes »gekrönt mit Preis und Ehre«; denn durch Gottes Gnade sollte er für alle den Tod schmecken." Hebräer 2,9

 

Bens Buch entlarvte sich als frei von Notizen, als sein Englischlehrer die Bücher der ganzen Klasse darauf prüfte, ob auf jeder Seite Notizen angefertigt worden waren. Der Englischlehrer schlussfolgerte daraus, dass Ben die Hausaufgabe «Buch lesen» nicht erledigt hatte und brummte ihm als Strafe eine Textanalyse auf. Widerwillig verfasste Ben den geforderten Text und überreichte ihn dem Lehrer. Zwei Tage später bekam Ben die hartnäckige Art des Lehrers erneut zu spüren: Die Analyse sei nicht zufriedenstellend. Ben solle deshalb umgehend eine Korrektur verfassen und den Text erneut abgeben.

 

Genervt korrigierte Ben seinen Text und reichte seine Analyse zum zweiten Mal ein. Und auch dieses Mal erhielt Ben die Möglichkeit, sich als Opfer eines lästigen Englischlehrers zu sehen. «Deine Arbeit ist erneut nicht zufriedenstellend, verfasse nochmals eine Korrektur», teilte der Lehrer mit. Weil der Englischlehrer keine Abgabefrist genannt hatte, plante Ben die Korrektur seines Textes eine Woche später ein, da die anderen Fächer für genügend Arbeit sorgten.

 

Sechs Tage später erhielt Ben die Nachricht: «Da ich die Korrektur deiner Englischanalyse nun eine Woche lang nicht erhalten habe, erkläre ich die Aufgabe für erledigt und notiere mir dafür die Note 3.» Als Ben die Nachricht sah, brach er in Tränen aus. «Ich hätte die Analyse morgen korrigiert und eingereicht. Der Lehrer hat mir keine Abgabefrist mitgeteilt», schluchzte er, während ihn das beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit beschlich. «Ich werde meine Klassenlehrerin kontaktieren. Und wenn diese meinen Englischlehrer nicht zurückpfeift, erfährt die Schulleitung davon», fauchte er und erarbeitete in seiner Fantasie weitere Racheszenarien, während seine Verbitterung wuchs.

 

In seiner Verzweiflung wandte sich Ben an seinen Vater. Nachdem Ben ihm alle seine Szenarien vorgestellt hatte, die er sich in der letzten Stunde zurechtgelegt hatte, lächelte der Vater verständnisvoll. Anschliessend besprachen sie miteinander den Vers aus Hebräer 2,9: "Den aber, der »eine kleine Zeit niedriger gewesen ist als die Engel«, Jesus, sehen wir durch das Leiden des Todes »gekrönt mit Preis und Ehre«; denn durch Gottes Gnade sollte er für alle den Tod schmecken."

 

Ben begann zu verstehen, dass sich die Demut im Sterben zeigt. In Christus sind wir der Sünde abgestorben. Paulus fordert uns in Römer 6,11 dazu auf, sich für die Sünde in Christus für tot zu halten und in Christus für Gott zu leben. Dies führt zur Krönung in Christus. Ben verstand: Er darf seinem Stolz, seinem Ansehen und seinem Rechthaben absterben in Christus und Gott gehorsam sein. Nachdenklich sass er auf dem Stuhl, mit sich ringend, um plötzlich erleichtert festzustellen: «Das ist ja der Königsweg!»

Zusammen mit seinem Vater entwickelte Ben anschliessend das «Königsszenario», das er am folgenden Tag wie besprochen umsetzte.

 

Als nach der Englischlektion der Pausengong ertönte, wartete Ben, bis alle Mitschüler das Klassenzimmer verlassen hatten. Dann stellte er sich vor das Lehrerpult und sagte seinem Englischlehrer nervös: «Mir wurde gestern bewusst, dass ich Sie mit meinem Verhalten immer wieder gereizt habe. Ich bitte um Entschuldigung und sehe die Note, die sie mir für die Textanalyse erteilt haben, als Resultat davon. Ich akzeptiere sie.» Der Lehrer reagierte überrascht. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er meinte, es sei «schon gut», und ausserdem habe die Note auch kein besonderes Gewicht.

 

Dieses Gespräch brachte eine grundlegende Änderung in der Beziehung zwischen Ben und seinem Lehrer. Weil Ben aus dem Machtkampf ausstieg und den Weg der Demut beschritt, begann auch der Englischlehrer, von seiner pedantischen Art abzulassen. Ben wiederum versuchte sein Verhalten zu bessern, indem er sich auch während des Unterrichts nicht mehr auf Machtkämpfe einliess.

Der königsweg

Ben hat im Konflikt mit seinem Lehrer den Königsweg beschritten – eben den Weg, den der wahre König dieser Welt vor 2000 Jahren eingeschlagen hat: Es ist der Weg der Demut. Dieser Weg war beschwerlich. Statt die Ehre und Anerkennung bei den Menschen zu suchen, erwartete Jesus die Ehre allein von seinem Vater. Der Königsweg bedeutete für ihn, dass er sich nicht bedienen liess, sondern uns Menschen diente. Und: Dieser Weg der Demut führte Jesus in den Tod. Uns Menschen zu dienen, bedeutete für Jesus, am Kreuz zu sterben. Paulus schreibt im Philipperbrief:

 

"Der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz." Philipper 2,6-8

 

Wir Menschen scheuen uns, Jesus auf diesem Weg zu folgen. Das demütige und sanftmütige Agieren in Konflikten ist oft mit der Angst behaftet, die eigene Ehre, das Ansehen und die Kontrolle zu verlieren. Auch Ben brauchte Mut, das Gespräch mit seinem Lehrer zu suchen und für sein eigenes Versagen geradezustehen. Indem man sich demütig zeigt, scheint man sich verletzlich zu machen, sich als schwach zu zeigen, und man fürchtet die daraus resultierende Verachtung.

 

Diese Verbindung zwischen «Mut» und «Demut» erkannten bereits die ersten Missionare, die das Wort «Demut» in die oberhochdeutsche Kirchensprache einführten. «De-Mut» entstand aus dem Wort «Diene-Mut»; es ist also die Gesinnung zu dienen, die dem Dienenden Mut abverlangt. Doch man fürchtet sich davor, die Achtung vor den Menschen zu verlieren, indem man sich «schwach» zeigt. Diese Angst bringt ein deutsches Sprichwort treffend zum Ausdruck: «Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.» Ja, Demut ist eine Zier, sie ist aber notwendig für jedes Kind Gottes. Jesus lebte uns die Demut vor. Er brachte den Mut auf zu dienen. Er fürchtete die Verachtung der Menschen nicht, sondern suchte die Ehre vor Gott. Und die Bibel fordert diese Demut, die sich wie eine rote Linie durch das Leben von Jesus zieht, auch von uns. Der Prophet Micha schreibt:

 

"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott." Micha 6,8

Das Kleid der Demut

Ebenso können wir im ersten Petrusbrief lesen: "Ebenso ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter! Alle aber umkleidet euch mit Demut im Umgang miteinander! Denn «Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade»." 1. Petrus 5,5

 

Petrus richtet sich an alle, wenn er dazu aufruft, demütig zu sein. Mit «alle» sind die Armen, die Reichen, die Angesehenen und die Unscheinbaren, die Pastoren wie auch Gemeindeglieder angesprochen. Der Theologe Thomas Schirrmacher schreibt: «Demut ist nicht einfach das Verhalten der unteren Ränge, sondern Kennzeichen der Geleiteten wie der Leiter.» Die Bibel führt aus, was das konkret heisst: 

  1. Männer sollen ihre Frauen lieben. Die Frauen sollen ihre Männer ehren.
  2. Eltern sollen ihre Kinder nicht zum Zorn reizen. Die Kinder sind aufgerufen, ihren Eltern zu gehorchen.
  3. Der Arbeitgeber soll das Beste für den Arbeitnehmer suchen. Der Arbeitnehmer soll sich dem Arbeitgeber unterordnen.
  4. Die Pastoren und Ältesten sollen nicht über ihre Herde herrschen (siehe Titus 1,7 ff.). Die Gemeinde soll die Autorität der Ältesten respektieren (siehe Hebräer 13,17).

Wenn Petrus von der Demut spricht, zieht er einen Vergleich herbei, um zu veranschaulichen, wie wir demütig werden können: Wir sollen die Demut wie ein Gewand anziehen. Dieses Kleid der Demut ist Christus selbst, mit dem er unsere Ungerechtigkeit bedeckt (siehe Jesaja 61,10; Römer 8,1; Römer 13,13). Deshalb soll sein demütiges und sanftmütiges Wesen auch zu unserem Wesen und Charakter werden.

 

Das griechische Wort für «umkleiden», das Petrus hier benutzt, lautet «enkomboomai» und bedeutet «umbinden» oder «anknüpfen». Petrus meint hier sinnbildlich, dass wir uns einen Sklavenschurz umbinden sollen, um unseren Nächsten zu dienen, wie es Jesus getan hat.  Adolf Schlatter kommentiert dazu: «Darum muss sich jeder mit dem wachen Entschluss immer wieder zum Kleinen und Unscheinbaren wenden und sich die Demut anziehen, wie der Diener sich den Schurz anlegt, an dem man sofort sieht, dass er nicht geniessen, nicht geehrt sein, nicht bedient werden will, sondern zu jeder Handreichung bereit ist, die dem anderen nützt.»

 

Mit anderen Worten: Wir sollen die Gesinnung Christi uns zu eigen machen. Danken wir Gott, dass er uns in seiner Treue und Barmherzigkeit in das Bild seines Sohnes verwandelt. Denn das bedeutet, die Ruhe in Christus gefunden zu haben:

  • Er ist mein König: Die Macht der Sünde ist gebrochen.
  • Er ist mein Priester: Mein einziger Trost ist Jesus.
  • Er ist mein Prophet: Ich lebe vom Wort Gottes und nicht mehr vom Betrug der Sünde (Hebräer 3,13).

Der Königsweg zeichnet sich durch ein weiteres Merkmal aus: Er hat den Beigeschmack des Todes. Wenn wir Jesus folgen, bedeutet dieser Weg auch für uns, dass wir täglich sterben: Wir sterben der Sünde ab. Paulus nimmt auf diesen Prozess Bezug, wenn er im Korintherbrief schreibt: «Ich sterbe täglich» (1. Korinther 15,31).

 

Wilhelm Busch fasst dieses wichtige Reich-Gottes-Gesetz in einem Satz zusammen: «Es geht durch Sterben nur.» Wir halten uns der Sünde für tot, aber lebendig in Christus. Dieses Mitsterben beschreibt die Bibel in drei Schritten:

  1. Christus ist für uns gestorben.
  2. Ich bin in Christus der Sünde abgestorben.
  3. Darum betrachte ich mich der Sünde als tot und lebe Gott in Christus.

Doch der Königsweg endet mit dem Tod! In Psalm 103,4 können wir vom Lohn des Weges der Gerechtigkeit lesen: Die Frucht, die aus diesem täglichen Absterben der Sünden hervorgeht, ist die Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit!

 

Der Theologe Matthew Henry schreibt über die Demut in seinem Kommentar zu 1. Petrus 5,5: «Demut ist der grosse Bewahrer des Friedens und der Ordnung.» Solange wir uns in allen christlichen Gemeinschaften hochmütig verhalten, wird es Meinungsverschiedenheiten, Spaltungen und Durcheinander geben.

Der Königsweg von Dominik und Stefan

Zum Schluss zwei weitere Beispiele, wie zwei Personen konkret den Königsweg beschritten haben.

 

Dominik, ein junger Seminarist der pädagogischen Hochschule, möchte unbedingt ein cooler Lehrer sein. Vor einem Klassenausflug ins Schwimmbad befürchtete er, dass ihn die Kinder fragen könnten, ob er auch vom 10-Meter-Turm springen könne. Das Resultat: Er müsste seinen Schülern erklären, dass er sich nicht getraue, von dieser Höhe ins Wasser zu springen, und er wäre folglich nicht mehr der coole Lehrer. Dieser Student sucht ausschliesslich seine eigene Ehre vor den Menschen. Trotz Panikattacken im Vorfeld konnte er schliesslich Trost im Glauben finden. Er darf demütig auf seine Ehre, vor den Kindern als cooler Lehrer dazustehen, verzichten und stattdessen für Gottes Ehre leben und seinen Schülern als Lehrer dienen. Diese Art von Demut befreit. «Nicht vor Menschen haben wir uns zu beugen, als ob ihre Grössen uns demütigen, ihr Vorzug uns beschämen müsste und ihre Macht uns Schranken setzte.

 

Verhielten wir uns so, so gäbe das die unedle, knechtische Demut. Aber unter die Hand Gottes haben wir uns zu demütigen, unter diese starke Hand Gottes, die auch einen stolzen Sinn wohl zu beugen vermag», schreibt Adolf Schlatter. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit (1. Petrus 5,6).

 

Der 6. Klässler Stefan begegnet seiner Lehrerin oft mit Respektlosigkeit. Als Strafe für wiederholtes Fehlverhalten befielt sie ihm, einen Kuchen mitzubringen. Stefan hingegen interpretiert diese Aufforderung eher als eine Empfehlung. Zwei Monate vergehen, die Lehrerin setzt Druck auf, doch offenbar nicht genügend, dass sich Stefan bequemt, den geforderten Kuchen mitzubringen. Als ihn sein Vater darauf anspricht, wie es dazu komme, dass er nach zwei Monaten seiner Lehrerin immer noch einen Kuchen schulde, antwortet er: «Ich unterwerfe mich dieser Lehrerin sicher nicht!»

 

Was sich Stefan nicht bewusst ist: Der Machtkampf spielt sich nicht nur zwischen ihm und seiner Lehrerin ab. Stefan rebelliert auch gegen Gott! Adolf Schlatter schreibt dazu: «Sowie wir begehrlich nach unserer Grösse und Ehre greifen, beginnen wir den Streit mit Gott. […] Der Wille, mit dem ich mir meine Macht und Grösse selbst verschaffen will, ist sündlicher und gottloser Wille.»

 

Als die Eltern ihren Sohn auf den Stolz seines Herzens aufmerksam machten und ihm den Weg zur Gnade mit dem Text aus Hebräer 2,9 aufzeigten, erkannte Stefan: Sich unterziehen bedeutet demütig sein. Und der Weg der Demut bringt uns in die Königsposition. Wir sind in Christus, weil wir durch seinen Gehorsam und seine Demut von Gott mit Barmherzigkeit und Gnade gekrönt werden. So fand Stefan schliesslich den Mut, sich zu demütigen, als scheinbar schwach vor der Lehrerin und der Klasse dazustehen und als Strafe für seine Rebellion gegenüber der Lehrerin den Kuchen zu backen. Durch die Gnade Gottes demütigte sich Stefan auch vor Gott und erkannte seine Sünde und fand Vergebung.

 

Der Machtkampf zwischen der Lehrerin und Stefan war damit gebrochen. Anstelle von Machtstreben, das sein Herz ausfüllte, bestimmte nun die Demut sein Herzen, was das Wesen von Christus ist.

  • Alle drei, Dominik, Stefan wie auch Ben, durften die Hoffnung der Veränderung durch den Königsweg erfahren: "Nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott kundtun wollte, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden ist, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit." Kolosser 1,26-27
  • Der junge Lehrer und Stefan haben sich demütigen lassen, indem sie Einsicht zeigten und sich dem Wort Gottes demütig unterstellt haben. Dieser Prozess ist schmerzhaft. Doch es ist der einzige Weg zur Busse und zum Heil. Vielleicht sollten wir nach Nathans suchen, welche die Wahrheit der Schrift in unser Leben hineinreden! Wie recht hat doch der Psalmist: "Ehe ich gedemütigt wurde, irrte ich; nun aber halte ich dein Wort." Psalm 119,67
  • In diesem «Gedemütigt-Werden» dürfen wir gleichzeitig den Trost erfahren, dass wir vom Wort Gottes zum Leben finden. So schreibt der Psalmist weiter: "Ich bin sehr gedemütigt; HERR, erquicke mich nach deinem Wort!" Psalm 119,107

Denn Gott erquickt uns nach seinem Wort. Das Wort «Erquickung» bedeutet, Leben zu erhalten. Wir leben nicht vom Brot allein, sondern vom Wort Gottes, das unsere Seele belebt und ernährt. Wenn wir Jesus auf dem Königsweg folgen, gelangen wir zur Königsposition und werden von Gott mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt. – Ihm allein gehört die Ehre!