Halte dir die Lust vor Augen

Scott Hubbard

Eine verlorene Waffe im Kampf um die Reinheit

Fernsehen ohne Fernbedienung. Ein Theater ohne Ausgang. Ein Traum ohne Erwachen. So erscheint uns die Phantasie inmitten einer begehrlichen Versuchung.

 

Viele sind mit dem gemurmelten «Nein» vertraut, dem Kopfschütteln, dem Versuch, die Gedanken woandershin zu lenken. Und wohl ebenso viele haben die Hartnäckigkeit dunkler Gedanken gespürt, die Wiederkehr unerwünschter Bilder. Wir sind so leicht in dieses Theater der Phantasie hineingeraten, aber nun scheinen wir den Ausgang nicht zu finden.

 

Wie können wir aus diesem Traum erwachen und diesen Bann der Vorstellungskraft brechen? Viele Strategien können sich als hilfreich erweisen: Besinnung auf Gottes Verheissungen, ernsthaftes Gebet, ein Loblied. Oder – zwar weniger geistlich, aber immer noch nützlich – ins Freie gehen, Liegestütze machen, einen Freund anrufen. Franz von Assisi riet einmal einem Bruder, sich in einen eiskalten Fluss zu werfen, was dieser auch tat. Dies würde zweifellos wirken.

 

Neben diesen Methoden bietet die Schrift noch eine andere. Anstatt zu versuchen, die Phantasie auszuschalten, stell sie in deinen Dienst. Nimm dieses Theater, das die Lust so oft als Waffe gegen dich geschwungen hat, und schwinge sie jetzt gegen die Lust.

Hüte deinen Geist

Wohl kein anderes Buch als das Buch der Sprüche lehrt uns besser, die Waffe der Phantasie gegen die Lust zu schwingen. Besonders in den Worten des Vaters an seinen Sohn in den Kapiteln 5-7 füllt das Buch das Theater des Geistes mit Bildern, die geeignet sind, die Lust ihrer Kraft zu berauben. Betrachte zum Beispiel die Warnung des Vaters gegen die fremde Frau in Sprüche 7,25-27. Er beginnt mit dem einfachen Befehl:

Dein Herz neige sich nicht ihren Wegen zu, 

und verirre dich nicht auf ihre Pfade. 

 

Hier haben wir eine abgedroschene Weisheit im Widerstand gegen die Lust, eine Weisheit, die wir wohl viele Male schon gehört haben (und wahrscheinlich nicht oft genug hören können). Wie mit so vielen Sünden, so verhält es sich auch mit dem Kampf gegen die Sünde der Lust: Er wird oftmals gleich zu Beginn gewonnen oder verloren. Ist erst einmal das Herz abgewichen und streunen die Füsse umher, können wir nur schwer wieder auf den guten Pfad zurückfinden. Der Weg zur fremden Frau ist in jeder Richtung eine abschüssige Bahn – und der Weg zurück bedeutet in jedem Fall einen steilen Aufstieg. So ist es denn viel leichter, am Anfang ihrer Strasse umzukehren, als über die Schwelle ihres Hauses zu fliehen.

 

So weit, so gut. Aber wie wenden wir uns in diesem entscheidenden Augenblick ab, wenn der erste Hauch eines Gedankens aufsteigt? Wiederum können manche Strategien nützlich sein. Aber hier bittet der Vater seinen Sohn, etwas entgegen der Intuition zu tun, etwas scheinbar Gefährliches:

 

Halte dir die Lust vor Augen. Schau nicht einfach weg, schau vielmehr genauer hin: Schau über die Versuchung hinaus, um zu erkennen, was wirklich hinter der Tür der dunklen Begierde lebt.  

Theater des Glaubens

Nach dem Befehl in Vers 25, nicht abzuirren, bekämpft der Vater nun das eine Bild mit einem anderen: 

 

Denn sie hat viele verwundet und zu Fall gebracht, 

und gewaltig ist die Zahl ihrer Opfer. 

Wege zur Unterwelt sind ihr Haus, 

führen hinab zu den Kammern des Todes. 

Sprüche 7,26-27 

 

Zu Beginn weist uns das Wort «Denn» darauf hin, dass das Folgende die Begründung dafür liefert, warum wir die Lust noch vor dem ersten Schritt stoppen sollen. Und dieses grosse «Warum» ist nicht bloss ein logisches Argument (obwohl es dies auch ist), sondern ein Bild, eine Szene – eine andere Geschichte auf der Leinwand der Phantasie. Zuvor hatte der Sohn die fremde Frau freizügig gekleidet an der Ecke stehen sehen, ihr Lager mit bunten Tüchern gepolstert, ihr Bett parfümiert – die Lust im Make-up (Sprüche 7,12 und 16-17). Jetzt aber sieht er sie im schwarzen Gewand mit einer Sichel, ihr Lager ein Schlundloch zur Hölle, ihr Bett ein offener Sarg. 

 

Was tut dieser Vater? Vielleicht denkt er daran, wie unsere ersten Eltern am Anfang nicht durch ein blosses Argument, sondern durch ein Bild zu Fall gebracht worden waren: das Bild eines guten Baumes, einer weisen Unabhängigkeit und eines verweigernden Gottes (Genesis 3,4-6). Vielleicht denkt er auch an Näherliegendes und erinnert sich daran, wie der mächtige David zu Fall kam, in einem Nu, durch einen Anblick, der auf der Oberfläche haften blieb, eine Gestalt, die den Geist erfüllte (2. Samuel 11,2-3). 

 

Wie auch immer; er weiss um die Macht des Bildes zum Guten wie zum Bösen. Er weiss: Auch wenn die Phantasie kein Ersatz ist für Glauben, so nährt sich doch der Glaube von wahren Bildern Gottes, des eigenen Ichs und der Welt. Zuverlässige Phantasien erinnern den Glauben daran, was in Wirklichkeit ist – und was nicht. 

 

Möglicherweise hätte der Sohn in Sprüche 7 auch «Nein» zur fremden Frau sagen können, selbst ohne das Grab hinter ihrer Tür zu sehen – genau wie Eva zur Schlange hätte «Nein» sagen können, selbst unter dem Einfluss ihrer falschen Bilder. Der Wille mag im Moment «Nein» sagen, selbst wenn die Phantasie gefangen liegt. Aber die Sieger sind unter solchen Umständen auf lange Sicht Verlierer, denn die verdorbene Phantasie von heute ist das verdorbene Herz, der verdorbene Wille von morgen. Die Selbstbeherrschung kann in einem Lügentheater nicht lange überleben. Denn wohin sich die Phantasie bewegt, dahin bewegt sich der Mann. 

 

So komm denn, zusammen mit diesem Vater und Sohn, und halte dir vor Augen. 

Halte dir die Lust vor Augen

Da bist du nun, an deinem Schreibtisch sitzend oder in deinem Bett liegend, wie eine Gestalt aus der Ecke deines Geistes dich zu rufen beginnt. Ein Bild flackert auf. Ein Gedanke nimmt Gestalt an. Aber dann hältst du inne und hältst dir vor Augen: Wer ist diese fremde Frau, diese Dame Lust, dieses Flüstern in der Dunkelheit? 

 

Wohl triefen ihre Lippen von Honig und Öl, aber sie ist bitter wie Wermut, scharf wie ein Schwert (Sprüche 5,3-4). Als bares Gegenteil von Medizin führt ihr anfängliches Vergnügen zur endlichen Qual, sie verspricht Heilung und stattdessen zerschlägt sie. Jenseits von ihr siehst du ihre einstigen «Liebhaber»: gewürgt, sich in Schmerzen windend, blutend, sterbend. 

 

Sie ist ein verborgener Fallstrick, eine unsichtbare Schlinge (Sprüche 5,22). Getrieben von «Nur dieses eine Mal» und «Nur noch ein bisschen mehr», finden ihre Opfer den Fuss in der Falle, die Handgelenke gefesselt. Sie schworen sich nur diesen einen Besuch in ihrem Haus. Doch nun erkennen sie, dass sie nicht mehr hinauskommen. 

 

Sie ist eine Schlächterin und eine Jägerin, sie fängt die einfältigen Tiere, die das Fleisch erblicken und den Haken übersehen (Sprüche 7,22-23). Der Mann, der ihren Pfad einschlägt, geht so verwundbar dahin wie ein Hirsch, vom anderen Ende des Bogens aus gesehen. «Er weiss nicht, dass es ihn sein Leben kostet» (Sprüche 7,23). 

 

Und dann, so drückt es unser Abschnitt aus, ist sie die Schnitterin des Todes, die Platzanweiserin im Totenreich, die Gebieterin über das Grab (Sprüche 7,26-27). Mit jeder gestohlenen Freude gräbt sie dein Grab tiefer, meisselt einen weiteren Buchstaben in deinen Grabstein, treibt einen weiteren Nagel in deinen Sarg. 

 

Wermut und Schwert, Fallstrick und Schlinge, Schlächterin und Jägerin, Schnitterin und Leichenbestatterin – dies ist das Gesicht dieser verführerischen Killerin, das wahre Gesicht, das ein weiser Vater seinem Sohn zeigt. Sicher kann ein Mann die Lust auf diese Weise wahrnehmen und dennoch in ihre Arme fallen. Aber es wird ihm schwerer fallen, wenn er sich vorstellt, wie er sich auf ihrem mit Teppichen gepolsterten Lager niederlegt: Um zu ihr zu kommen, muss er in sein eigenes Grab steigen.  

Halte dir die Reinheit vor Augen

Indessen hat Gott die Phantasie für mehr als grimmige Warnungen gemacht. In der Versuchung werden die redlichen Phantasien nicht nur über die scheinbare Schönheit der Lust hinausblicken, sondern auch über die scheinbare Biederkeit des Gehorsams. Sie werden uns die Reinheit vor Augen stellen. 

 

Der Vater stellt die beiden Aufforderungen an die Vorstellungskraft nebeneinander: 

 

Dein Born sei gesegnet, 

und freue dich des Weibes deiner Jugend! 

Die liebliche Hindin, die anmutige Gemse, –  

möge dich ihr Busen allezeit ergötzen, 

mögest du dich an ihrer Liebe stets berauschen. 

Warum aber mein Sohn, wolltest du dich an einer Fremden vergehen 

und den Busen einer Fremden umarmen? 

Sprüche 5,18-20

 

Das Gegenmittel für sündhafte Berauschung ist nicht blosse Nüchternheit, sondern edle Berauschung. Kämpfe mit der Phantasie gegen die Phantasie – und für die Verheirateten gilt: Beginn mit deiner Ehegattin. Halte dir die Schönheit deines Ehebettes vor Augen. Denke an «das Weib deiner Jugend», deren Lippen von Honig triefen, der nie sauer wird, deren Hände kein verborgenes Schwert halten, deren Gesicht lieblicher wird, je länger du es mit treuen Augen betrachtest. Und tue dies «zu allen Zeiten» und «überall und immer». Halte das Theater deines Geistes erfüllt mit einer durch Gelübde bewahrten Intimität. 

 

Allerdings sind längst nicht alle verheiratet, die gegen die Lust kämpfen. Und ausserdem bieten die Sprüche eine noch mächtigere Reinheit an – auch für die Verheirateten. 

Halte dir Gott vor Augen

Neben dem «Weib deiner Jugend», so rät der Vater seinem Sohn immer wieder, solle er sich noch eine andere Gestalt vor Augen halten – besser als eine Gattin, wohltuender als eheliche Liebe: Weisheit und, darüber hinaus, den Gott, den sie uns gibt. 

 

Der Pfad gottesfürchtiger Weisheit, gerade auch für die ledigen Leute, ist «ist kostbarer als Perlen, und alle deine Schätze sind ihr nicht zu vergleichen» (Sprüche 3,15). Sie gibt eine ebene Bahn, einen furchtlosen Weg, süssen Schlaf (Sprüche 3,23-24). Ja, «Ihre Wege sind liebliche Wege und alle ihre Pfade Frieden» (Sprüche 3,17). Was auch immer die Strasse der Weisheit für dich bereithält, wie streng sie auch immer erscheinen mag: Du wirst doch auf diesem Weg Erquickung und Frieden finden – Erquickung wie Edens rechtmässige Frucht, Frieden wie stille Wasser in Lande der Lebendigen. 

 

Weil denn alle Pfade der Weisheit uns zu dem Gott leiten, der sie gemacht hat – ja mehr noch, zu dem Gott, der diese Pfade selbst beschritten hat, darum sind sie rein und glücklich und viel besser als irgendetwas Verbotenes. Er ist unser Ruhm und unsere Freude, unsere Würde und unser Vergnügen, das Angesicht, mit dem das Theater unseres Geistes gefüllt werden soll. Seine Gemeinschaft ist der Lust grösster Verlust, der Reinheit herrlichster Preis. Dieser Gott ist Jesus. 

 

«Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!» (Matthäus 5,8). Halte dir das vor Augen. Halte dir ihn vor Augen.

Übersetzt mit freundlicher Erlaubnis von Desiring God. Originalartikel ist am 8. Juli 2023 unter https://www.desiringgod.org/articles/imagine-lust erschienen. 

 

Scott Hubbard is an editor for Desiring God, a pastor at All Peoples Church, and a graduate of Bethlehem College & Seminary. He and his wife, Bethany, live with their two sons in Minneapolis.