Die wohl wichtigste Erkenntnis, die mich in der Erziehung meiner Kinder geprägt hat, ist diese: Kinder sind Menschen.
Es scheint selbstverständlich zu sein. Offensichtlich haben sie Arme, Beine, Ohren und einen Mund, so dass sie als solche gelten. Aber die Vorstellung, dass sie eigenständige Persönlichkeiten sind, geht weit über den blossen Besitz eines menschlichen Körpers hinaus. Es betrifft den Kern ihres Wesens und sagt etwas über ihren Wert aus. Kinder sind genauso wie Erwachsene nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Sie entwickeln sich zwar körperlich, seelisch und auch geistlich in einem anderen Tempo als Erwachsene, aber ihr Wert und ihre Würde hängen nicht von der Geschwindigkeit oder dem Umfang ihrer Entwicklung ab. Wie Dr. Seuss schon sagte: "Ein Mensch ist ein Mensch, egal wie klein er ist."
Wenn man mich fragt, welche Aussage ich in Bezug auf die Kindererziehung am meisten irreführend finde, dann wäre es diese: Die Bibel sagt relativ wenig über das Thema Kindererziehung.
Auf den ersten Blick scheint diese Aussage wahr zu sein. Wenn wir an Stellen zum Thema Kindererziehung denken, fallen uns in der Regel solche ein, in denen es eindeutig um Eltern, Kinder, Autorität und Unterweisung geht: „und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst“ (5. Mose 6,7). Das fünfte Gebot in 2. Mose 20:„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt“ (2. Mose 20,12). „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn“ (Sprüche 13,4). „Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt wird“ (Sprüche 22,6).
Und ein paar andere Verse. Vielleicht fügen wir noch das Beispiel des verlorenen Sohnes oder die Erziehungsprobleme der Stammesväter hinzu. Aber abgesehen von diesen wenigen Stellen wird die Eltern-Kind-Beziehung nicht ausdrücklich erwähnt, was viele zu der Schlussfolgerung führt, dass Gott uns grösstenteils uns selbst überlässt, wenn es um das Thema Kindererziehung geht. Eine durchaus nachvollziehbare Schlussfolgerung.
Bis wir uns daran erinnern, dass Kinder Menschen sind.
Denn wenn Kinder Menschen sind, dann sind sie auch unsere Nächsten. Das bedeutet, dass jedes Gebot in der Bibel, das uns auffordert, unseren Nächsten so zu lieben, wie uns selbst, plötzlich auch unsere Kindererziehung betrifft. Jedes Gebot, das uns auffordert unseren Nächsten um jeden Preis, mit grosser Mühe und mit göttlicher Weisheit zu lieben, ist dann nicht nur ein Gebot, die Menschen an meinem Arbeitsplatz, in meiner Gemeinde, in meinem Friseursalon, in meiner Straße oder im Obdachlosenheim zu lieben. Es wird zu einem Gebot, die Menschen unter meinem eigenen Dach zu lieben, egal wie klein sie sind. Wenn Kinder Menschen sind, dann sind also unsere eigenen Kinder unsere engsten Nachbarn. Kein anderer lebt so nah bei uns und braucht unsere aufopferungsvolle Liebe mehr.
Plötzlich ist ein Grossteil der Bibel ganz und gar nicht mehr still, wenn es um das Thema Kindererziehung geht. Die Erkenntnis, dass meine Kinder meine Nächsten sind, hatte Auswirkungen auf die Art und Weise, wie ich sie erziehe, wie ich mit ihnen spreche und wie ich mit anderen über sie spreche. Ich musste mir eingestehen, wie schnell ich die Menschen, die mir am nächsten stehen, auf eine Art und Weise behandle, wie ich einen Freund oder einen Mitarbeiter nie behandeln würde. Es hat mir geholfen, meinen Kindern mit Mitgefühl zu begegnen, anstatt mit Geringschätzung. Ich kann ihre Erfolge besser feiern, ohne die Lorbeeren dafür zu ernten und über ihre Misserfolge trauern, ohne sie als klaren Beweis dafür zu sehen, dass ich eine schreckliche Mutter bin. Die Erkenntnis, dass meine Kinder meine Nächsten sind, hat mich dazu befreit, sie als ganze Menschen zu genießen, anstatt sie als finanzielle Verpflichtungen zu betrachten, die Schmutzwäsche erzeugen, Lebensmittel verzehren, Unordnung stiften und Ärger verursachen.
Es gibt allerdings auch Tage, an denen das nicht so ist. Und an diesen Tagen muss ich mich wieder daran erinnern, was die Bibel über die Nächstenliebe lehrt. Ich muss bekennen, dass ich mein Kind nicht auf diese Weise geliebt habe und von neuem anfangen. Und die Bibel bietet reichlich Hilfe. Hier sind nur ein paar „untypische“ Verse zur Erziehung, die mich an den Tagen, an denen es nicht so läuft, wie es sollte, zurück zur Nächstenliebe führen:
Wenn ich meine Kinder scharf zurechtweisen will:
„Eine sanfte Antwort wendet den Grimm ab, ein verletzendes Wort aber reizt zum Zorn.“ (Sprüche 15,1)
Wenn ich sie belehren will:
„Ihr sollt wissen, meine Lieben: Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. Denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.“ (Jakobus 1,19-20)
Wenn ich will, dass sie mich grossartig dastehen lassen:
„Tut nichts aus Selbstsucht oder nichtigem Ehrgeiz, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern jeder auf das des anderen.“ (Philipper 2,3-4)
Wenn ich die Erfüllung ihrer Bedürfnisse als eine Zumutung empfinde:
„Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist, oder durstig, und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremdling gesehen und haben dich beherbergt, oder ohne Kleidung, und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis, und sind zu dir gekommen? Und der König wird ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Matthäus 25,37-40)
Wenn ich Anerkennung dafür will, wie hart ich als Mutter arbeite:
„Wenn du aber Almosen gibst, so soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen ist. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, er wird es dir öffentlich vergelten.“ (Matthäus 6,3-4)
Wenn ich nicht bereit bin, ihnen zu vergeben:
„Alle Bitterkeit und Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung sei von euch weggetan samt aller Bosheit. Seid aber gegeneinander freundlich und barmherzig und vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ (Epheser 4,31-32)
Wenn ich im Familienalltag den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe:
„Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streiten, sondern milde sein gegen jedermann, fähig zu lehren, geduldig im Ertragen von Bosheiten; er soll mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweisen, ob ihnen Gott nicht noch Busse geben möchte zur Erkenntnis der Wahrheit.“ (2. Timotheus 2,24-26)
Dieser letzte Vers steht auf einem Notizzettel an meinem Kühlschrank.
Es ist wahr, dass unsere Kinder eine von Gott gegebene Verantwortung sind, die wir wahrnehmen müssen. Aber wir werden diese Verantwortung nur dann richtig wahrnehmen, wenn wir uns daran erinnern, dass unsere Kinder in erster Linie Menschen sind, die wir wertschätzen sollen.
Wenn wir unsere Kinder als unsere Nächsten schätzen, vermeiden wir in unserer Erziehung jeden Ansatz von Verurteilung, Beschämung oder Verachtung. Wir ändern unsere Ausdrucksweise, um Liebe und Wertschätzung zu vermitteln, selbst wenn wir Worte der Korrektur sprechen müssen. Und wir ersetzten Gebete wie "Bitte hilf meinem frustrierten Kind" durch solche wie "Bitte hilf mir, den kleinen Nächsten, den du mir anvertraut hast, so zu lieben, wie du mich geliebt hast."
Fred Rogers verstand den Wert und die Würde von Kindern sehr gut. Als ordinierter presbyterianischer Pfarrer verbrachte er sein Leben damit, kleinen Kindern im öffentlichen Fernsehen die Schönheit der Nächstenliebe zu predigen: "Es ist ein schöner Tag in der Nachbarschaft... Willst du nicht mein Nachbar sein?" Seine Botschaft ist auch für Eltern eine gute Botschaft. Kinder sind Menschen. Unsere eigenen Kinder sind unsere engsten und liebsten Nachbarn.
Lasst uns jeden "schönen Tag in der Nachbarschaft" nutzen, um den Nachbarn, die mit uns unter einem Dach wohnen, besondere Liebe entgegenzubringen. Und lassen wir uns ermutigen: Die Bibel ist überfüllt mit Hilfe für uns.
Jen Wilkin: Your Child Is Your Neighbor 17.09.2015. Übersetzt von Monika Peters.