Perfektion - Beziehungskiller für Familien

Beat Tanner, ph.d. (USA)

Die meisten Eltern sind sich darüber einig: Unser Kind braucht gute Schulnoten! Die Begründung liegt auf der Hand: In unserer Gesellschaft ist Leistung ein Muss und gleichzeitig der Schlüssel zum beruflichen Erfolg. Dieses Muss findet in einer Gesellschaft statt, in der Globalisierung, Schnelligkeit, dauernde Einsatzbereitschaft und Perfektion zur Norm geworden sind.

 

Dieser Druck führt dazu, dass kaum genügend Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen bleibt. Dem kann kaum jemand widersprechen. Oder doch? Vielleicht kennen Sie das Bild vom Zeigefinger, der auf andere gerichtet ist. Jemand bemerkt dazu, dass in einem solchem Fall drei Finger auf sich selber zeigen. Ein Bild, das uns vielleicht helfen kann Beziehungen zu erneuern?

 

Die Definition von Perfektion ist nicht ganz so leicht. Perfektion kann viele Facetten haben. Der Einfachheit halber formuliere ich drei Aspekte der Perfektion; entsprechend dem Bild mit den drei Fingern.

 

Perfektion ist der selbstgewählte Zwang,

  • dass ich meine persönliche Erwartungen und Wünsche an mich selber erreichen muss,
  • dass andere meine persönlichen Erwartungen und Wünsche erfüllen müssen und nicht zuletzt,
  • dass ich die Erwartungen anderer Menschen an mich erfüllen muss.

Die Folge von meinen persönlichen Erwartungen sind Kritik, Schuldabschieben, Kontrollieren und eine innere Unzufriedenheit. Der Einwand, ich kann doch mein Kind keine schlechten Noten machen lassen, oder der Ärger, dass der Ehepartner nicht rechtzeitig am Familientisch sitzt, ist die Selbst-Rechtfertigung meiner eigenen Ansprüche.

 

Die daraus folgende Unzufriedenheit ist ein dauerhaftes, dumpfes Gefühl, wenn persönliche Erwartungen und Wünsche nicht erreicht sind. Der Ärger breitet sich aus und ergiesst sich in Form von Kritik über den Nächsten, sollte der meinen Erwartungen nicht entsprochen haben. Diesmal ist es Hansli, der lieber mit dem Gameboy spielt, als Hausaufgaben zu machen. Und ein anderes Mal ist es der Ehepartner, der später als geplant nach Hause kommt.

 

Tatsache ist, dass ich damit eine angespannte Atmosphäre in der Familie schaffe und die darauf folgenden angespannten Beziehungen drohen im Streit auseinanderzubrechen. Mein Streben, mich zu erklären, Verständnis für meine Erwartungen einzufordern, fordert seinen Tribut: Mein Perfektionismus und der damit verbundene Stress und die Kritik sind die grössten Beziehungskiller. Warum, werden Sie sich fragen, zerstöre ich mit meinem Perfektionismus meine Familie, wenn ich doch recht habe, dass Kinder gute Noten heimbringen sollen und der Ehepartner pünktlich sein soll?

 

Perfektionismus, der Wunsch, dass meine Erwartung erfüllt werden, ist der selbstsüchtige Impuls meiner Seele, welche mich zwanghaft beherrscht. Paulus schreibt im Römerbrief, dass wir das tun, was wir eigentlich nicht wollen und was wir wollen, tun wir eben nicht! So ist es mit dem Perfektionismus, der uns Erfolg verspricht, uns jedoch in einer Sackgasse enden lässt. Die Kritik am Nächsten ist ein Mittel, unseren Ärger zu rechtfertigen und die Kontrolle der Hausaufgaben der Kinder, rechtfertigt oftmals unsere Angst, den Ruf einer guten Mutter zu ruinieren.

 

Wie können wir uns denn aus der Abwärts-Spirale des Perfektionismus befreien? Der Blick in unser Inneres, dem Herzen, hilft uns, einen anderen Weg zu suchen, welche Beziehungen festigt und erhält. Es ist die Einsicht, dass meine Wünsche und Erwartungen an mich, meinen Ehepartner und meine Familie mein Herz nicht beherrschen dürfen: Die Erwartung an meine unerfüllten Wünsche, also mein Perfektionismus, darf unser Sein und Verhalten nicht bestimmen.

 

Die Liebe lässt uns fragen, welche innere Haltung und welche Fähigkeit muss ich entwickeln, um meinem Kind zu helfen, die Verantwortung für seine Hausaufgaben zu übernehmen? Die Liebe lässt uns fragen, welche innere Haltung und welche Fähigkeit muss ich entwickeln, meinem Ehepartner respektvoll zu begegnen?

 

Die Liebe ist es, welche dem Kind zumutet, dass es im Stande ist, die Verantwortung für die Hausaufgaben zu übernehmen. Es ist die Liebe, welche den verspäteten Ehepartner nicht lauthals am Familientisch beschimpft. Meine Rechtfertigung, ist nicht mein Recht haben, sondern die Einsicht, dass das Ausüben von Kontrolle und Kritik der Anforderung der Liebe nicht entsprechen. Erst dann wird meine Selbst-Rechtfertigung in Form von Kontrolle und Kritik am Nächsten nicht mehr länger die Beziehung zu meinem Ehepartner und zu den Kindern bestimmen.

 

Denn Kinder und Ehepartner gehören nicht unserem persönlichen Wunschbild, sondern sind ein anvertrautes Geschenk.

 

Der christliche Glaube beruht auf der Hoffnung der Vergebung und die daraus verändernde Kraft des dreieinigen Gottes. Augustin Aurelius, der Kirchenvater, welcher von 354 bis 430 n.Chr. lebte, deutet auf diesen Glauben in seinem Buch "Bekenntnisse" hin. Er schreibt davon, dass unsere Existenz in Gott ruht:

 

"Denn zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir."

 

Die Vergebung und damit Hinwendung zu Gott mit meinem Perfektionismus ist deshalb die Alternative zum Zwang, meine eigenen Wünsche und Anforderungen erfüllt haben zu wollen. Denn der Richterstuhl und damit der Entscheid, was richtig und falsch ist, gehört nicht uns, sondern Gott. So ist der Ausweg aus dem Zwang des Perfektionismus, nicht unsere Selbst-Rechtfertigung in Form von Ärger, Kritik und Kontrolle, sondern die Befreiung von Perfektionismus ist eine von Gott geschenkte Rechtfertigung. Es ist die Einsicht meiner eigenen Lieblosigkeit und gleichzeitig das Wissen um Vergebung und Erlösung, der eigenen Lieblosigkeit, welche unsere innere Haltung beherrscht hat. Die drei Finger, welche auf uns selber gerichtet sind, können uns daran erinnern, dass echte Veränderung in der Familie immer zuerst bei uns selber beginnt.