Autismus spricht.

Pamela Gannon

Mein zweitgeborener Sohn war ein ruhiges Kind. Während der ersten Nacht im Spital schlief er acht Stunden lang. Er weinte nur selten. Ich war hoch erfreut! Aber während der folgenden Wochen und Monate entwickelte er sich kaum. Sein Verhalten war distanziert. Er lächelte nicht und mied den direkten Augenkontakt. Er liess sich nicht auf Menschen ein, und es fehlte ihm an motorischer Koordination. Er war am liebsten allein. Und er sprach nicht.

 

Autismus. Diese Diagnose löst tausende von gegensätzlichen Gefühlen aus. Eltern stehen von einem Tag auf den andern einer Zukunft gegenüber, auf die sie nicht vorbereitet sind. Gefühle wie Liebe, Betroffenheit, Traurigkeit, Angst; vielleicht sogar Wut kommen auf.

 

Unzählige Fragen tauchen auf. Was ist Autismus genau? Wie konnte das meinem Kind passieren? Handelt es sich um ein körperliches Problem? Habe ich als Mutter Fehler gemacht? Was wird aus unserem Kind? Welche Hilfestellungen wird es benötigen? Wird es zur Schule gehen, Freunde haben, heiraten, eine Familie gründen und arbeiten können? Was hat Gott vor?

 

Die Anzahl von Menschen mit autistischen Problemen nimmt zu. Seelsorger werden vermehrt dazu kommen, überforderte Eltern in diesen und ähnlichen Fragen zu begleiten. Dieser Beitrag will in Kürze die Themen behandeln, mit denen Eltern autistischer Kinder konfrontiert werden, und grundlegende Gedanken zur Seelsorge aufgreifen.

Trauer über den Verlust des „Normalen“

Menschen ohne Störung der Gehirnfunktion werden als „neurologisch typisch“ bezeichnet. Unser Nervensystem, unser Gehirn und unsere Sinne funktionieren in vorhersehbaren, „normalen“ Bahnen. Aber für Menschen aus dem Autismus-Spektrum ist das anders. Zwar sind keine zwei autistisch veranlagten Kinder genau gleich, doch teilen sie ähnliche Verhaltensweisen. Geruchs-, Tast- und Geschmackssinn können sensibler sein, während das Schmerzempfinden verringert ist. Die motorische Entwicklung eines autistischen Kindes ist oft verzögert und seine Bewegungen können in eigenartiger Weise wiederholend sein. Aber am offensichtlichsten sind die Probleme im Bereich der Kommunikation: Sowohl im verbalen als auch im nonverbalen Bereich treten Entwicklungsstörungen auf, was zu grossen Beeinträchtigungen in den verschiedensten sozialen Interaktionen führt.

 

Die Bezeichnung „Autismus“ findet sich im DSM [1]. Die Ursache dieser Einschränkung ist unbekannt. Während viele unterschiedliche physiologische Abweichungen vom Normalen mit dem Syndrom in Zusammenhang gebracht werden, gibt es keine, die so durchgängig auftreten, dass sie als „ursächlich“ angesehen werden könnten. Die Forschung arbeitet an möglichen physischen und genetischen Ursachen des Autismus. Wir können sagen, dass viele der Schwierigkeiten dieser Menschen nicht moralischer Natur sind – es liegt also kein sündiges Verhalten vor. Die auffälligen Verhaltensweisen werden besser mit dem Wort „Schwachheiten“ beschrieben. Viele davon scheinen auf der Unfähigkeit des Gehirns zu basieren, in einer typisch natürlichen Weise zu funktionieren.

 

Eltern mit autistisch veranlagten Kindern werden demnach mit dem Schmerz über den Verlust des Normalen konfrontiert. Alle von uns haben Erwartungen an den Lauf des Lebens, und dann sehen wir uns unvermittelt vor die Tatsache gestellt, dass das Leben anders als erwartet verlaufen wird. Dabei ist es ganz in Ordnung, über die Zerbrochenheit dieser Welt traurig zu sein. Wir können jedoch Eltern dabei helfen, in Hoffnung zu trauern! Gott ist und bleibt der König. Er ist souverän, und er wirkt alle Dinge zu seiner Ehre und zu unserem Besten – sogar Autismus. Unser Herr hat unsere Kinder genauso gemacht, wie er es geplant hat, um seinen Namen in ihnen zu verherrlichen:

 

„Seht doch ihr lieben Brüder und Schwestern auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen, sondern was töricht ist vor der Welt…, auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme.“ 1. Korinther 1,26-29

 

Wir wollen trauernde Menschen begleiten und uns mit ihnen zusammen an unseren Gott wenden, der uns Kraft und Ausdauer schenkt. Wir wollen Eltern ermutigen, Gott und Seinen guten Absichten mit uns zu vertrauen.

 

Herr, ich bin bereit zu empfangen, was du schenkst.

Auf das zu verzichten, was du zurückhältst.

Und was du von mir nimmst, das will ich dir überlassen. 

- Anonym -

Lieben in Weisheit

Kinder aus dem autistischen Bereich sind Leidende und Sünder wie wir alle. Weil ihre Schwierigkeiten aber mit fehlenden neurotypischen Verhaltensmustern in der Kommunikation verbunden sind, geraten wir mit ihnen in immer wieder in ungewöhnliche und peinliche Situationen. Die Bandbreite geht von stark beeinträchtigten Behinderten, die nicht sprechen können, bis zu denjenigen mit gut ausgebildeten Fähigkeiten. Ihre besondere Art fordert uns heraus, die zu lieben, die von uns verschieden sind. Es gibt zwei besondere Möglichkeiten, solche Menschen recht zu lieben:

 

1.  Arbeite daran, sie besser zu verstehen

Die grösste Problematik besteht darin, sündiges Verhalten von Schwäche und Unfähigkeit zu unterscheiden. Bis wir das autistische Verhalten unseres Sohnes verstanden hatten, straften wir ihn immer wieder unnötigerweise, weil wir nicht ahnten, dass es keine Sünde war, sondern einfach Unvermögen. Zum Beispiel baten wir ihn, sein Zimmer aufzuräumen. Das war aber zu viel von ihm verlangt: Ohne sprachliche Organisationsfähigkeit war er ausserstande, diese Aufgabe zu lösen. Sein Erinnerungsvermögen schaffte es nur, sich eine Liste von drei Aufträgen zu merken. Das war alles. Und weil er sein Problem nicht kommunizieren konnte, steckte er in einem Dilemma. Als wir besser verstanden, wozu er mental fähig war, konnten wir unsere Anweisungen vereinfachen, so dass unser Sohn die Möglichkeit hatte, diese auch auszuführen und mit uns zu kooperieren. Als Seelsorger sollten wir den Eltern raten, erst dann von Sünde auszugehen, wenn klare Auflehnung und nicht Unvermögen vorliegt. Lasst die Eltern ihren Kindern Herzensfragen stellen, die deren Fähigkeiten entsprechen. (Zum Beispiel: Was macht diese Aufgabe schwierig für dich? Was denkst du dabei, wenn du etwas Bestimmtes tust? Was könnte dir helfen?) Eltern sollen ihrem Kind zeigen, wie es eine Aufgabe bewältigen kann, und es beim Erlernen angemessener Verhaltensweisen begleiten.

 

2.  Sei dankbar für die Einzigartigkeit deines Kindes

Mein Sohn hat sich gut entwickelt und kann sich verbal ausdrücken. Indessen braucht er die Sprache in seiner ganz eigenen Art. Wenn ich zum Beispiel „Hi“ (Hallo) sage, so antwortet er mit „Low“. Er spielt sprachlich mit dem englischen Gegensatzpaar „high-low“ (hoch-tief). Bei solchem Austausch erleben wir regelmässig Spass. Menschen mit autistischen Neigungen brauchen die Sprache oft wortwörtlich. Es fällt ihnen schwer, Bedeutungsnuancen, Humor oder abstrakte Sprachverwendung zu verstehen. Darum haben wir als Familie gelernt, nicht irritiert zu reagieren, sondern uns an den aussergewöhnlichen, unerwarteten Antworten zu freuen. Gleichzeitig leiten wir unsere Kinder liebevoll dazu an, sich nach gesellschaftlichen Normen zu richten.

Nehmen Sie Hilfe in Anspruch

Eltern profitieren davon, wenn sie angemessene Hilfe in Anspruch nehmen, um die Stärken ihres Kindes zu fördern und seine Schwächen zu verringern. Unser Sohn erhielt Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie, um die körperlichen Defizite seines Autismus zu mildern. Erfahrene Freunde aus der christlichen Gemeinde ermutigten uns darin, unser Kind weiterhin im Glauben nach dem Wort Gottes zu erziehen. Spezialisten können hilfreich sein, aber das Herz unserer Kinder wird vor allem durchs Evangelium erreicht. Gottes Wort und der Heilige Geist bleiben die wichtigsten Quellen der Weisheit und Erkenntnis. Bitten wir Gott um die nötige Führung in der Erziehung des wertvollen Kindes, das er uns anvertraut hat.

Fragen zum Nachdenken

Wie lieben wir eine Person, die sich stark von uns unterscheidet und sich in peinlicher oder verwirrender Weise benimmt? Wie könnte Gott die Diagnose „Autismus“ in ihrem persönlichen Leben oder im Leben von Ratsuchenden brauchen, um uns zu helfen, im Glauben zu wachsen und Christus ähnlicher zu werden?

 

[1] Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Washington, DC: American PsychiatricAssociation, 2000. Seiten 70-75

Pamela Gannon ist Professorin in Biblischer Seelsorge am Montana Bible College und zusammen mit ihrem Mann, Dan, Kommunikationsbeauftragte des ACBC für medizinische Fragen. 

 

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 23. Oktober 2017 von BCC (Biblical Counseling Coalition) www.biblicalcc.org veröffentlicht und wurde mit freundlicher Genehmigung der BCC übersetzt (Translation kindly permitted by BCC). Übersetzung: Yvonne Ballmer.